Tag 47, 14. August 2017

 

 Diese reizvolle Stadt (1142 gegründet, 500 000 Einwohner) möchte ich heute Morgen gerne ein wenig zu Fuß erkunden und marschiere im Eilschritt durch den gepflegten alten Stadtpark Homels – um 9 Uhr will die Karawane schließlich weiterziehen.

Kurz bevor ich umkehren möchte, höre ich in der Ferne wohltönende Gesangesfetzen. Magisch angezogen folge ich und sehe zwischen den alten dichten grünbelaubten Bäumen eine großzügige Kirche stehen. Mit mir strömen unzählige junge und alte Frauen mit Kräuterbuschen in der Hand zum Eingangstor, binden ihre Kopftücher nochmals fest und betreten, sich ehrfürchtig bekreuzigend, den Eingang – der allerdings schon bis zu den Treppenstufen hinaus überfüllt ist. Kirchengesang erklingt durch die offene Türe bis weit nach draußen. Spontan fällt mir dazu die Kräuterweihe ein, die wir speziell in Süddeutschland zu Maria Himmelfahrt am 15. August feiern. Auf Nachfrage erfahre ich von Sascha Sambuk, dass die orthodoxe Kirche diesen heutigen 14. August seit alten Zeiten als Honig-Erlöser- oder Honig-Heiland-Tag feiert. Da unsere Karawane weiter will, muss ich diesen Ort verlassen, bevor ich mehr erleben kann.

Wir sind Sascha bereits am Abend zuvor als einem von seiner Sache sehr überzeugten sympathischen Kenner Weißrusslands begegnet und mit dem gleichen Engagement lenkt er uns von unserer langen, mal wieder etwas holperigen Strecke Richtung östlicher Landesgrenze mit seinem Sachverstand über den „Weißen Flecken“ Europas ab.

 Der Name der Republik Belarus (Weiß-Russland) hängt historisch gesehen mit den Tributverpflichtungen an die Goldenen Horden, den spätmittelalterlichen mongolischen Großmächten des osteuropäischen Gebietes, zusammen. Die westlichen russischen Gebiete, die grundsätzlich von Tributzahlungen befreit waren, wurden in „weiße Erde“ unterteilt, alle anderen unter dem Joch stehenden Länder in „schwarze Erde“. Verblieben ist das „weiße“ Russland.

Während abgeerntete Felder mit unzähligen riesigen Strohballen an uns vorbeirauschen, erwähnt Sascha die aktuelle Anweisung des verehrten Batka („Vater“) Lukaschenko, dass die diesjährige Getreideernte bis zum 20.8. eingebracht sein müsse. Hier im Süden scheint dieser Stichtag erfüllbar zu sein, in anderen Landesteilen wird dies aufgrund der gegenwärtigen Vegetationsperiode eher knapp werden. Da man sich hier jedoch durch den Einsatz von ausgeliehenen Maschinen (Mähdrescher etc.) gegenseitig „hilft“ (immer noch verbliebener sowjetischer Sprachgebrauch), wird auch dies wohl pünktlich gelingen.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde Weißrussland 1991 als eine der 15 Teilrepubliken unabhängig. Die Menschen des Landes haben den Wechsel als Chance offenbar nicht ergriffen. Sambuk bezeichnet sie als „Homo Sowjeticus“ mit noch wenig Eigenidentität, immer noch dem Gehorsam verschrieben, mit wenig Eigeninitiative und ansonsten politisch eher passiv. Nach wie vor finden sie sich mit den angeordneten Gegebenheiten ab. Die Ursache hängt sicherlich an den Machtverhältnissen und vor allem an der Person des gegenwärtigen Präsidenten.

1994 kam Aljaksandr Lukaschenko an die Macht. Bis 1996 noch war Weißrussland eine demokratische Republik. Ab dann griff das Referendum, welches den Staat in eine Präsidialrepublik umwandelte. Die Politik ist komplett auf den Machthaber zugeschnitten. Sein demagogischer Führungsstil ist durch starke Medienpräsenz gekennzeichnet, wo er sich als allwissenden Landesvater gibt und sowohl innen- als auch außenpolitisch zu glänzen versucht. Lukaschenko gilt als letzter Dikatator Europas. Nach wie vor ist seine Politik planwirtschaftlich ausgerichtet, wobei 60% des Außenhandelsvolumens an den Nachbarstaat Russland gehen.

Aktuell hebt die Weltbank das internationale Investionsengagement insbesondere in Belarus mit 35% Steigerungraten hervor. Sambuk hinterfragt dies; wo sind diese Investoren sichtbar?

 Er bringt Beispiele. Mitte der 90er Jahre bemühte sich Ford sehr stark um Etablierung im Land. Die allgegenwärtige Bürokratie bewirkte letztendlich, dass das Unternehmen alles stoppte, was bereits aufgebaut worden war und nach St. Petersburg auswanderte. Ausländische Unternehmen riskieren hier Sambuks Erfahrung nach nichts. Die Wirtschaft liegt überwiegend in staatlicher Hand und lässt privatwirtschaftliches Engagement kaum zu. Dies erscheint auch wenig rentabel, da die Währung schwach ist und es auch kaum Absatzmärkte im Ausland gibt. Wer etwas wagen, etwas unternehmen will, geht bevorzugt nach Russland - so, wie es z.B. die 500 000 Wanderarbeiter tun, die sich im Nachbarland verdingen, um ihre Familien zu ernähren.

 Offiziell gibt es keine Arbeitslosigkeit; man geht jedoch von einer tatsächlichen verdeckten Arbeitslosigkeit von ca. 20% aus.

 Durch die Finanzkrise in Russland leidet aufgrund der Verflochtenheit und Abhängigkeiten auch Belarus; daher werden neue Quellen für den Staatshaushalt gesucht. Lukaschenko kam auf die Idee, eine Schmarotzersteuer für nicht registrierte Arbeitslose (die z.B. in der Schattenwirtschaft arbeiten) einzuführen (200 Dollar/Jahr). Erstmalig entstanden Proteste auf der Straße, worauf es schnellstens zu einer Revidierung der Idee kam. Dies zeigt, wie akut die Lage im Lande ist. Während der letzten 10 Jahre gab es massive Subventionen aus Russland (geschätzte 100 Milliarden Dollar). Eine Form der russischen Subvention ist auch die Gewährung von geringsten Öl- und Gaspreisen.

 Weißrussland ist nach wie vor und aus Warschauer Pakt Zeiten ein stark militarisiertes Land. Einheiten der Sowjetarmee waren hier stationiert und bis heute sind viele Stützpunkte und Armeeinheiten geblieben; für Lukaschenko ein gewichtiger Faktor. Er hat die Annektion der Krim sehr kritisch verfolgt und Russland angedroht, das eingefrorene Verhältnis zu Europa zu verbessern. Konkret aber sucht er außenpolitisch Kontakt zu China, um sich einen potentiellen Verbündeten zu sichern. Im September hat Russland ein Manöver angekündigt: „Sapad 2017“. Das macht hier sehr nervös.

Samuk bespricht nun ein Thema, welches ihm aus ganz persönlichen Gründen ein Anliegen ist: Der Mythos des großen vaterländischen Krieges.

 Belarus versteht sich als Partisanenrepublik. Es gab laut offiziellen Statistiken 80000 sowjetische Partisanen, wovon sich 70% auf weißrussischen Territorium aufhielten. Der Mythos, auf dem laut Sambuk die gesamte Politik Belarus´ fußt, besagt, dass jeder 4. Weißrusse in der Zeit des Partisanenkrieges 1941 ums Leben kam.

2009 schrieb Bogdan Musiol, ein deutsch-polnischer Historiker, ein Buch über die Partisanenbewegung in Weißrussland (Sowjetische Partisanen 1941–1944. Mythos und Wirklichkeit). Darin entzaubert er viele statistische "Interpretationen" und relativiert Zahlen sehr sehr deutlich.

Funktionen in Regierung/Parteien waren durchgängig von ehemaligen Partisanen besetzt, daher war und ist es wichtig, dass die Erfolge der Bewegung sehr hoch gehalten werden. Für die Staatsideologie spielt die Partisanenbewegung daher mit ihren Heldenkämpfen für die nationale Identität eine ausgesprochen wichtige Rolle (als Helden und als Opfer).

Sambuk empfiehlt, folgende Schriftsteller zu lesen, sollte man sich weiter mit dem Leben und Leiden der Menschen in Kriegszeiten beschäftigen wollen:

Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch (Nobelpreisträgerin 2015), welche auf Augenhöhe die Menschen und Erlebnisse aus dem Alltag während des Krieges schildert und

Wasil Pykau (Autor), der nach dem Leitspruch arbeitete: Man muss sich immer entscheiden: wird man zum Verräter oder geht man einen anderen Weg; man hat immer eine moralische Wahl.

Beim Abendessen am - endlich einmal wieder - runden Tisch erzählt Sascha Sambuk weiter viel Erhellendes und Aufklärendes über das Leben in Belarus. Ein spannender Abend, der mit einer Fragerunde offen endet.