Schon wieder?
4. Juli 2018
Das mag sich der oder die eine oder andere nun fragen.
Es ist noch kein Jahr vergangen, seit Manfred und ich von unserer zweimonatigen Busreise aus China quer durch die Welt nach Hause zurückgekehrt sind. Direkt danach war es so erleichternd anzukommen, zu wissen, wo der eigentliche Lebensmittelpunkt zu sein scheint, wo man sich in Gewohnheiten zurückfallen lassen konnte und wo sich alles so vertraut anfühlte. Nach und nach jedoch spürte ich, dass dem nicht ganz so war. Die lange Reise durch für mich exotische Länder, Kulturen und Landschaften und die zwischenmenschlichen Eindrücke hatten mich sanft aber nachdrücklich verändert.
Immer wieder fluteten Erinnerungsfetzen hoch, Momente von kleinen und großen Begegnungen und Erlebnissen, Landschaftsbildern, Stimmungslagen. Mir wurde klar, dass sich tatsächlich etwas grundlegend verändert hatte. Kurz und gut: Konsequenterweise löste ich meinen Laden auf, um mich neu zu orientieren, befinde mich momentan in einem neuen Fernstudiengang und stehe gespannt vor neuen Herausforderungen.
Doch die Unruhe blieb. Stetig gab es kleine Anstupser, die das noch nährten: Gespräche und Treffen mit den "ZEIT-Reisenden" der Truppe 2017, das neue Buch von Gabriele Krone-Schmalz, das Eintreffen der Reise-Tagebücher der ZEITreisen und eines ehemaligen Mitreisenden, unsere Foto-Vorträge vor Freunden, Kollegen, Rotary etc., aber vor allem anderen: Sehnsucht. Sehnsucht danach, alte Träume zu verwirklichen (nicht umsonst habe ich Slavistik studiert), einmal eine Pionierreise mitzumachen (ist ja schon per se ein kleines Abenteuer) oder einfach: für sich selbst neue Grenzen zu stecken.
So, die Reise von Shanghai nach Hamburg per ZEIT-Bus ist nun also tatsächlich gebucht. Es gibt kein Zurück. Morgen geht es los.
TAG 1
5. Juli 2018
Heute, an unserem Hochzeitstag, macht uns Aeroflot ein ganz besonderes und unerwartetes Geschenk. Nachdem wir mit über einer Stunde Verspätung losgeflogen sind fliegt die Maschine so viele Schleifen über Moskau, dass wir unseren Anschlussflug nach Shanghai am Ende nicht mehr erreichen können. Erste Enttäuschung weicht den Angeboten der Fluglinie: Ein paar tausend Rubel zum Speisen, eine Übernachtung im Hotel auf dem Flughafengelände (und nicht auf engen Flugzeugsitzen) und ein Upgrade in die Business class!
Also feiern wir diesen besonderen Tag im Irish Pub auf dem Transitgelände des Flughafens und freuen uns auf den morgigen Tag! Wenigstens freuen sich dessen Betreiber, dass sie lernen, wie man ein richtiges Black N'Tan herstellt.
Tag 2
6. Juli 2018
Diesmal läuft alles wie am Schnürchen. Der Tag ist allerdings kurz, denn auch wenn wir bereits gegen 10 Uhr losfliegen und nur 8 Stunden wohlbetreut und richtiggehend verwöhnt in der Luft schweben, landen wir aufgrund der Zeitverschiebung erst um 23:30 Uhr in Shanghai. Die Metropole hat uns wieder! Auf dem Foto fliegen wir gerade über die Mongolei, die wir uns in Kürze genauer anschauen werden.
Aber nun gilt nur eines: Das gemütliche Bett im Grand Kempinski lässt uns in wohligen und verdienten Schlaf versinken...
Tag 3
7. Juli 2018
Ganz ganz früh, noch bevor wir schlaftrunken aus dem regentropfenbetupften Fenster auf den träge fließenden, grauen Huangpu hinab blicken, denken wir an Gudruns Geburtstag und singen ihr wohlklingende Hymnen auf Telegram. Mal schauen, ob das über den Äther saust und wohlbehalten bei ihr ankommt.
Anschließend fahren Manfred und ich den vertrauten Hotel-Aufzug aus dem 22. Stock hinab und genießen unser erstes chinesisches Frühstück seit gefühlten Ewigkeiten - dabei ist das doch erst knapp 12 Monate her, seit ich begeistert mein erstes Tee-Ei in diesem schönen Haus genossen habe. Unsere ersten Schritte führen uns auf leisen Sohlen an einen Tisch am Ende des Frühstücksraumes zu einem Herrn in grünem Shirt, der dort genüßlich seine erste Tagesmahlzeit verzehrt. Thomas, der bereits letztes Jahr mit uns gereist ist, reißt die Augen auf - offensichtlich traut er diesen nicht. Der Herr in Grün wusste nämlich nicht, dass wir ebenfalls bei dieser Pionierreise dabei sein würden, freut sich nun aber sehr über die gelungene Überraschung!
Wie bereits im letzten Jahr fahren wir mit der neuen Gruppe in einem heimischen Bus zu uns bekannten und noch neu zu entdeckenden Lokalitäten. Dass Shanghai seit letztem Jahr von 24 auf 25 Millionen Menschen angewachsen ist, kann ich mir vorstellen. Das räumliche Ausmaß aber (100 km in die eine Richtung und 120 km in die andere) kann ich erst ermessen, als wir eine Halle besuchen, wo die Stadt in Miniaturen bis ins kleinste Detail nachgebildet ist - höchst beeindruckend (das Foto zeigt nur einen Ausschnitt)!
Danach besuchen wir eine bekannte Shanghaier Seidenmanufaktur, die mir bereits im letzten Jahr eine Maulbeerseidenbettdecke eingebracht hat, deren flaumige Leichtigkeit ich nie mehr missen möchte. Und genau dort passiert etwas, was wohl jeder in seinem Leben schon einmal erfahren hat, aber nicht so richtig glauben kann: wir treffen unseren hochgeschätzten chinesischen Reiseleiter Michael aus dem letzten Jahr just in dieser Manufaktur mitten in dieser riesigen Metropole genau zu dieser Uhrzeit zufällig wieder und fallen uns lachend in die Arme. Es ist ein sehr herzliches Wiedersehen und ich muss sagen, dass das doch ein spezielles Erlebnis ist, wenn sich fast 20% einer Gruppe mehr oder wenig zufällig und unabgesprochen exakt ein Jahr nach ihrem Zusammenkommen wiederfindet. Mehr denn je gilt der Satz: Die Welt ist klein.
Nun besuchen wir weitere Sehenswürdigkeiten, auch wenn die Regenzeit und ein gewisser Schlafmangel ihren Tribut einfordern. Alle sind tapfer und neugierig auf diese unglaubliche Stadt - und die neuen Mitreisenden. Erste spannende Gespräche mit dem China-Experten Oliver Harms, unserem chinesischen Reiseleiter Yun Chen (genannt Franz) und neuen Bekanntschaften aus der neuen Gruppe Hamburg (neben der zweiten Gruppe Shanghai) lässt uns erwartungsfroh der Dinge harren, die da auf uns zukommen werden.
Der Blick auf den Fluß heute Abend ist wunderschön, hier treffen sich gerade Alt und Neu, während der Pearl Tower neben unserem Hotel bei lauer Nacht in diesigen Nebel eintaucht.
4. Tag, 8. Juli 2018
Endlich – voller Ungeduld warten wir auf die Ankunft UNSERER Busse.
Die meisten Mitglieder unserer Truppe wissen natürlich noch nichts von der Tasse mit ihrem Namen, der aufgedruckten Streckenführung und dem kleinen Plüschpanda darin, die auf den ausziehbaren Tischen an ihrem bequemen Sitzplatz steht und die nun jeden Tag während der kleinen Pausen zwischendrin mit frischem Kaffee gefüllt werden wird. Sie wissen noch nichts von den freundlichen Busfahrern, die alle 2 Tage wechseln und mit netten Worten den Tag einleiten, kleine Geschichten erzählen und sie mit jeglicher Hilfeleistung unterstützen und zu einem wesentlichen Bestandteil der Gruppe werden. Sie wissen noch nichts von den Abläufen und Routinen, mit denen die Tage gefüllt werden. ABER – sie freuen sich sichtlich abenteuerlustig auf das Kommende.
Wir, die wir schon so vieles von alledem wissen, sind schnell in die scheinbare Routine eingetaucht. Speziell während der Kaffeepausen ist vieles vertraut. Dennoch haben wir das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Bis wir merken, was es ist: die Menschen, die Köpfe, die Körper der Menschen, die da vorne ihren Kaffee in die Tassen gießen, sind nicht die vertrauten aus dem letzten Jahr. Es sind die Neuen, an die wir uns nun gewöhnen müssen. Ich spüre da eine gewisse Leere, ein Befremden, aber weiß auch, dass das normal ist und sich im Laufe der Tage mehr und mehr etwas ganz Eigenes verdichten und neu erwachsen wird.
Trotz des anhaltend vernebelten Tages fahren wir als erstes zum höchsten Turm Chinas, dem Shanghai Tower. Er wurde erst 2015 fertig gestellt. Mit einer Geschwindigkeit von 74 km/h (18-20m/sek.) rasen wir die 632m hinauf – und sind enttäuscht. Wir befinden uns nämlich komplett in Wolken, sehen außer weißen Fensterscheiben nichts. Aber wie immer meint es das Glück dann doch gut mit uns. Innerhalb von Minuten reißen die Wolken auf und wir blicken auf die gigantische Stadt Shanghai hinab. Sehr beeindruckt betrachten wir die kleinen Hochhäuser und die beiden 2. und 3. höchsten Türme Chinas, die direkt benachbart, aber weit unter uns liegen.
Danach führt die Strecke der kraftstrotzenden schwarzen Neoplane über 500 km gen Norden, parallel zum Gelben Meer. Es regnet sich mehr und mehr ein, Monsunzeit eben. Gut, dass wir einen wunderbaren Reiseleiter dabei haben, der uns perfekt und einfühlsam auf die Reise einstimmt. Wolfgang Pohl versteht es sehr gut, Ängste und Sorgen so manchen „Neulings“ aufzulösen. Zeitverkürzend sind ebenfalls erhellende Gespräche, die wir mit Oliver Harms, dem China-Experten führen können. Seit vielen Jahren lebt und arbeitet er vor Ort und ist höchst vertraut mit ökonomischen und politischen Gepflogenheiten aus Vergangenheit und Gegenwart und löst so manche Frage, die wir seit letztem Jahr mit uns herumschleppen. Genauso aber ist auch Franz, unser chinesischer Reisebegleiter bemüht, alle sonstigen Widrigkeiten ins Gegenteil zu verwandeln. Er lotst Ruven, unseren Fahrer, perfekt durch das Straßengewirr (da sonst ja niemand die chin. Schriftzeichen entziffern kann), ordert fürsorglich die richtigen Biersorten für unsere Separees am Abend und tauscht als selbst ernannte Franz-Bank unsere Währungen in chin. Yuan.
Nach einem Abendessen in einem gigantischen Hotelkomplex sitzen Manfred, Ruven, Christian, der Inhaber der Reisebusse, seine Frau Isabell und ich in der sogenannten Bar (die sich neben dem Kinderspielplatz im Frühstücksraum befindet) und haben einen richtig lustigen Abend miteinander. Endlich! Etwas verdichtet sich. Etwas wächst wieder. Wir kommen an.
Tag 5, 9. Juli 2018
Heute Nacht Punkt 12 Uhr klingelt plötzlich das Telefon, ein Skype-Bild ploppt auf und Olli, Anna, Eszter und Luci singen ein süßes Geburtstagslied für das heutige Geburtstagskind: Manfred feiert seinen Ehrentag - im Land des Konfuzius. So fängt ein Tag richtig gut an!
Als ich die Vorhänge gegen 7 Uhr zurückziehe erblicke ich ein Fischerboot auf schlammigem Grund mit einer kleinen hügeligen Insel im Hintergrund. Das Gelbe Meer! Niemand wusste gestern bei der Ankunft, dass wir direkt an dessen Ufer nächtigen würden. Umso mehr sind wir überrascht, auch wenn der Himmel nach wie vor mit schweren Wolken behangen ist.
Der folgende Weg zum Geburts- und Sterbeort des ehrwürdigen Meister Kong verläuft trotz der knapp 300 km kurzweilig mit Vorträgen zur Bedeutung des Buddhismus inkl. seiner Symbolik, Tieren, Farben, etc. Wolfgang überrascht aber auch unsere Geburtstagskinder mit Kerzen, Küchlein und Geschenken: wir haben nämlich ZWEI Feiernde im Bus, denn auch Isabell, die Frau von Christian unserem Busfahrer, mit denen wir gestern Abend so schön zusammensaßen, feiert ihren Ehrentag. Die Stimmung lockert sich mehr und mehr.
Auch der Himmel ist uns immer freundlicher gesonnen, sodass wir entspannt in Qufu ankommen können, dem Wirkungs- und Sterbeort von Meister Kong, genannt Konfuzius. Wir speisen zu allererst in einem einfachen Restaurant mit lokalen Spezialitäten. Einige aus unserer Truppe sind sichtlich düpiert von den Verhältnissen im Haus, die in unseren Gefilden keine einzige Hygienevorschrift auch nur im Entferntesten erfüllen würde. Ein paar alte Hasen wie wir aber gemahnen an mildernde Umstände, denn trotz aller irritierender Äußerlichkeiten genießen wir ein rundum bekömmliches Mahl voller Raffinessen und in bunter, schmackhafter Vielfalt. Anmerkung: auch am Abend gibt es keine weiteren nachträglichen Klagen oder Beschwerden irgendwelcher Art, die dieses köstliche Essen betreffen würden.
Der nun folgende Besuch der riesigen und wunderschönen Tempelanlage des Konfuzius beeindruckt uns alle sehr – trotz des amtlich verordneten lokalen Reiseführers, der uns in miserablem Englisch versucht, die Wirkungsstätte eines der größten Denker der Menschheit näher zu bringen. Wir verzeihen ihm, denn der Ort ist wirklich beeindruckend. Genauso die Friedhoftsanlage der größten Familie aller Zeiten: der Familie Kong. Auf dieser friedvollen, zikadenbezirzten, riesigen Grünanlage ruhen 120 000 Familienangehörige des Konfuzius in einer sehr bewegenden Umgebung voller uralter chinesischer Lebensbäume (Sabina chinesis (L.), bis zu 600 Jahre alt) und steinerner Zeitzeugen (Grabmale, Tiere etc.). Auch das Grab von Konfuzius selbst wird ehrfürchtig von den zumeist heimischen Besuchern bewundert (siehe Foto).
Kleine, schmucke Geschichten, die wir während des gesamten Tages noch mit vollem Genuss erlebten lasse ich heute Abend weg, da es spät geworden ist – bin aber immer noch erfüllt davon, ihr Lieben da draußen. Vielleicht noch ein kleiner Abschluss zu guter Letzt: in unserem wunderschönen Hotel Shangri-La kredenzt Franz zum Ende eines köstlichen Buffees voller exotischer, undefinierter Leckereien eine Geburtstagstorte für die Geburtstagskinder. Erneut feiern wir in fröhlicher Runde diesen besonderen Tag. Eigentlich wollten Manfred und ich noch hinunter zum Fluß spazieren, um die Pracht an Lotusblüten zu bewundern, die auf der Herfahrt so lockte – das schaffen wir nun nicht mehr. Lasst uns sehen, was der morgige Tag uns bringt. Wir begeben uns nun zur wohlverdienten Ruhe.
Tag 6, 10. Juli 2018
Der allmorgentliche Blick aus unseren luxuriösen Hotelfenstern gehört momentan zum wichtigsten Ritual auf dieser Reise. Sehnsüchtig warten wir alle auf den ersten Sonnenstrahl, aber der lässt sich noch nicht blicken.
Dennoch, trotz der grauen Himmelsfarbe fällt kein Regen und so dürfen wir in Tai’an unbeschwert bei angenehmer Temperatur eine höchst sehenswerte Tempelanlage besuchen, die einst den höchsten Gottheiten des Daoismus geweiht war. Sehr wenige heimische Besucher schlendern mit uns durch weitläufig verstreute Areale voller uralter Pflanzen. Fasziniert betrachten wir einen 1200 Jahre alten Gingko, aus dessen Fuß rundum kleine Sprößlinge neues Leben aus diesem Fossil gebären. Fast genauso alte Wandmalereien beeindrucken in ihrer Detailtreue und Feinheit in noch nicht vollständig renovierten Tempelhallen. Ich wünsche mir immer mal wieder, die Hand auszustrecken, um diese Zeichnungen zu berühren, als ob dadurch die Zeit überwunden werden könnte und Geschichte zum Jetzt wird. Gut, dass dann doch Gitterstäbe mich vor unüberlegter Handlung abhalten.
Draußen vor den Tempeln steht ein großer Wunschstein, der, wenn man ihn 3x links und 3x rechts herum mit geschlossenen Augen abtastend umkreist, dann einer geraden Linie folgt und den gegenüberliegenden alten Baum erwischt und streichelt, großes Glück verspricht. Wie glatt poliert wirken Stein und Baumstamm von den unzähligen Streicheleinheiten, die Menschenhand im Laufe von Jahrzehnten hier hinterlassen hat. Ein paar Mitreisende versuchen sich nun natürlich – ich werde berichten, ob das versprochene Glück bei den Betreffenden noch während der Reise eintritt.
Gegen Mittag widmen wir uns den lokalen Spezialitäten in einem heimischen Restaurant – einige stöhnen bereits ob der reichhaltigen Genüsse, denen wir täglich ausgesetzt sind. Aber auch hier in dieser schlichten Speisehalle sind alle wieder begeistert von der Vielfalt der unterschiedlichen Zutaten und Würzmethoden, auch wenn wir die gegarten Hähne mit ihren Kämmen lieber links liegen lassen. Übrigens, die Teller und Schüsseln werden trotz der Klagen immer leer geputzt... Und auch hier bemühen sich die Gäste und Mitarbeiter des Hauses, wie so häufig, lächelnd um ein Foto mit uns merkwürdigen Langnasen.
Nachdem das gestrige Geburtstagskind den Verdauungs-Reisschnaps im Bus eingeführt hat, muss das gewöhnungsbedürftige Getränk nun natürlich auch weiter ausgeschenkt werden, diesmal als Stärkung, denn nun erwartet uns unsere heutige Hauptaufgabe: die Ersteigung des heiligsten Berges Chinas, Tai Shan! Gut, ganz so heroisch geht es bei uns dann doch nicht zu, denn auch Profis benötigen für die 6666 Stufen gute 2 Stunden und die alten Kaiser ließen sich gar in Sänften gemütlich hinaufschaukeln, aber bei den fast 400 Stufen, die alleine zu unserer Seilbahnstation hinführen, kommen auch viele von den Unsrigen ins Schwitzen und Schnaufen, denn die Felsen hier sind doch sehr steil. Auch wenn wir uns mithilfe der modernen Gondeln nun in den Wolken befinden, steigen einige Freiwilligen noch weiter hinauf in ein seltsam anmutendes Gemenge aus traditionellen heiligen Tempelgebäuden und moderner Medienaufbereitung inkl. Verkommerzialisierung á la Disneyland. Saftige, wild wachsende Hanffelder verströmen intensiven süßlichen Duft, sodass eine fast unwirkliche Stimmung auf dieser nebeligen Höhe entsteht.
Der Besuch auf dem Berg in 1500m hat viele aus unserer Truppe trotz der Anstrengung sehr zufrieden werden lassen. Müde erreichen wir am Abend unser schönes Hotel in der Millionenstadt Tai’an und genießen an round tables gemeinsam mit der Gruppe Shanghai erneut Köstlichkeiten in einer nun nicht mehr aufzählbaren Vielfalt. Wie immer schaffen es ein paar Unermüdliche für einen letzten Umdrunk in die Bar. Xiéxie!
Tag 7
11. Juli 2018
Christian, unser heutiger Fahrer klärt uns zu Fahrtbeginn stolz über alle Maße, Fassungsvermögen, Kosten und sonstigen Details über den König der Busse, den unsrigen, auf. Eigentlich dürfen wir uns wie Kaiser in exquisiten Sänften fühlen. Hier ist immer für das gesamte Wohlbefinden gesorgt.
Anschließend nutzt Wolfgang die Gunst der Fahrt, um uns mit der zeitgeschichtlichen Entwicklung der Erde vertraut zu machen. Dies hilft uns, geologische Gegebenheiten, Felsformationen oder Pflanzenerscheinungen in unserer jeweiligen Umgebung einzuordnen. Erstaunlich für mich, wie interessant das sein kann.
Hatte ich gestern nicht von Glück gesprochen? Nach einer kurzweiligen Fahrt geschieht es: der Himmel reißt auf und die Sonne lacht uns an – dies, während wir uns gerade auf dem größten Brückensystem der Erde befinden (mehr als 40km Länge), also mitten auf dem Gelben Meer, kurz vor der 8 Millionenstadt Quingdao. Es ist immer wieder schön anzukommen. Also freuen wir uns auf unser Hotel, welches mit seinem drehbaren Restaurant schon von Weitem aus der Uferbebauung hervorleuchtet.
Ich weiß nicht, wie hier im Land die Sternevergabe geregelt ist, aber diesmal muss der zuständige Beamte einen Doppelsehfehler gehabt haben, denn statt der 5 Sterne würde ich höchsten 2,5 vergeben. Da sich - zum Beispiel - die schrammelige Badezimmertür von innen nicht mehr öffnen lässt, führt das zu manch spannender Situation. Aber ich will nicht lange klagen, der kleine Spaziergang am Meer, kurz vorm Schlafengehen wirkt cooling down.
Glück Nr. 2: beim Rangieren des bereits entladenen Busses platzt plötzlich ein Reifen, als Christian bei der engen Hoteleinfahrt über den Bordstein fahren muss. Weshalb ich von Glück spreche? Weil ich mir gar nicht auszudenken wage, was passiert wäre, wenn dieses Missgeschick irgendwo draußen in den menschenleeren Weiten der Mongolei oder auch nur mitten in der dicht befahrenen Stadt passiert wäre.
Ach ja, da fällt mir noch ein, dass es auch hier eine Bar im Hause gibt. Wie aus dem Nichts trudeln nach und nach die Schlummertrunksuchenden ein und gesellen sich zu uns. Mehr und mehr Ledersessel werden umgruppiert, bis auch das zu einem natürlichen Ende führt. Erstaunlich ist die Erfahrung, die wir schon so häufig gemacht haben, dass es wirklich beschwerlich ist, ein Getränk zu ordern. Es liegt nicht an den sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten alleine (Englisch wird sehr selten gesprochen), oft ist die Überforderung an den Gesichtern abzulesen, wenn ein zusätzliches leeres Glas benötigt oder gar ein Cocktail gewünscht wird. Zumeist sind die Zutaten nicht vorhanden, sodass am Schluss das Bier die letzte Rettung bleibt. In diesen netten Bar-Runden finden die besten Gespräche statt, deshalb MÜSSEN wir sie natürlich immer wieder aufsuchen.
Tag 8
12. Juli 2018
Eine lokale Stadtführerin bemüht sich heute, uns das koloniale Erbe Qingdaos näherzubringen. Ich bin aber sehr froh, dass wir stattdessen wieder Oliver bei uns haben, der im täglichen Wechsel mit der Gruppe Shanghai seinen letzten Tag bei uns verbringt. Sein Wissen ist unerschöpflich und wir dürfen ihn löchern, was das Zeug hält. So lernen wir an der deutschen protestantischen Kirche, dass die dort auf dem Vorplatz drapierten Brautpaare, die sich aufwändig fotografieren lassen, noch längst nicht verheiratet sind. Der echte Trauungstermin liegt noch Monate oder Jahre in der Zukunft bzw. findet manchmal gar nicht mehr statt, da das Paar längst wieder getrennt ist. Alle Vorbereitungen jedoch müssen vor dem Fest mit viel Geld und Aufwand getätigt sein.
Als wir neben dem Strand Nr. 1 (es gibt für Strände nur Nummerierungen und Nr. 1 ist einer der bekanntesten Nordchinas) eine weitere Touristenattraktion besuchen (Landungssteg), wundern wir uns, dass wir tatsächlich unter einem dichten Gedränge von Abertausenden von Touristen die einzigen westlichen Besucher sind und selber zur Attraktion werden. Unzählige Fotowünsche werden erfüllt, offene und versteckte, denn von überall sind Handys auf uns gerichtet, die uns im Vorbeiflanieren mitfilmen.
Die ehemalige deutsche Kolonie hat Qingdao trotz ihrer kurzen zeitlichen Präsenz stark geprägt. Die teils prächtigen Kolonialbauten stehen teilweise unter Denkmalschutz während ständig neue Monumentalgebäude die rotbedachten Erinnerungen umzingeln. Am meisten aber wird der deutsche Einfluss für immer durch etwas sehr Wichtiges erhalten bleiben: der Gründung der Brauerei Tsingtao (1903), die weltweit als DIE chinesische Biermarke gilt. Schnell werden wir so richtig schön touristisch durch die Museumsanlage geschleust, genießen aber das naturtrübe Probebier, welches zwar kaum an das Freiburger Feierling herankommt, aber trotzdem mundet.
Mehr und mehr nähert sich der Abflug von Oliver, was uns richtig ärgert, denn er ist der bisher beste Experte, den wir auf unseren China-/ZEITreisen dabeihatten. Wir sind immer an seiner Seite, da er zu allen Themen historisch und aktuell beitragen kann, was wir wissen wollen – alles bestens aufbereitet. Auf unsere Bitte hin erklärt er sich spontan bereit, noch einen letzten kleinen Vortrag über die Seidenstraße zu halten. Mit gepacktem Koffer sitzt er dann mit uns in unserer Bar, wieder mit umdrapierten Ledersesseln, wieder mit sich stetig vergrößertem Radius, bis die Plätze alle voll sind. Nach 1,5 Stunden muss er sich dann verabschieden. Sehr, sehr, sehr schade. Auf das Wiedersehen in Hamburg am letzten Reisetag freuen wir uns schon jetzt.
Eigentlich wollte ich nicht mehr über unsere Mahlzeiten berichten, um niemanden zu langweilig. Aber die Überraschungen nehmen nicht ab und so schildere ich kurz, dass wir am Abend original
koreanisch speisen. Wieder neue Geschmacksnuancen, wieder neue Zubereitungsarten, wieder neue Freude.
An diesem Abend fallen wir aber tatsächlich sofort in unsere Betten. Trotz der hohen Feuchtigkeitsdichte im Raum schlafe ich tief und traumlos.
Tag 9
13. Juli 2018
Endlich fahren wir Richtung Peking - nur noch letzte 650 km.
Nach einem guten Frühstück im drehenden Turm mit "Tigerhaut-Tee-Eiern" verbringen wir den Tag mit viel Schlaf, kleinen Zwischenvorträgen über das Dasein im sozialen Miteinander und dem maroden Gesundheitswesen Chinas anhand vieler lebensnaher Episoden aus dem Leben von Franz und steuern das Westin vor den Toren Pekings an. Ich wage es kaum auszusprechen, aber erneut ist das Abendessen ein Highlight. Das moderne Haus hat extra für uns ein Buffee angerichtet und bietet uns zu Ehren Diverses mit den Zusätzen "Deutsch" an, also Kartoffelsuppe, Kartoffelpuree etc., aber auch Sushi (für unsere Yoko?) und sonstige Extravaganzen. Wir danken und ziehen uns jetzt in die Bar zurück ;-)
Mit Hanne und Yoko aus Hamburg haben wir die richtigen gefunden, um einen fröhlichen Abend mit lieben Menschen zu verbringen. Zwei chinesische Musiker spielen im Hintergrund Chillout-Musik, bis wir dann doch erschöpft, aber zufrieden in unser riesiges Bett fallen.
Tag 10
14. Juli 2018
Gerne vertreten wir uns die Füße in der historischen Umgebung einer Millionenstadt kurz vor Peking, bevor wir endlich einen offiziellen Höhepunkt der Reise erreichen: die "Hauptstadt des Nordens", Beijing. 25 Millionen Menschen sollen hier leben; dennoch wirkt die Skyline im Verhältnis z.B. zu Shanghai bescheiden. Die Wolkenkratzer kratzen hier nicht wirklich an den Wolken, der höchste Turm der Stadt ist sichtbar noch im Bau, überragt alle anderen, hat aber nur etwas mehr als 500m nach oben geschafft. Wer möchte, vergleiche das gerne mit dem Shanghai Tower, den wir zu Beginn der Reise bezwangen. Dennoch herrscht hier eine andere Betriebsamkeit als gewohnt. Der Autoverkehr hat deutlich zugenommen, auch wenn dies durch die hohe Anzahl an Elektrofahrzeugen nicht so auffällt oder störend wirkt. Der Geräuschpegel hält sich durch die leisen Motoren sehr in Grenzen. Der Chinese an sich ist da bedeutend lustvoller im Umgang mit Lautäußerungen und Lautstärke. Gerne ruft er mit klarer Stimme über Menschenmengen hinweg, um sich bemerkbar zu machen. Chinesische Reiseleiter nutzen bevorzugt Mikrophone aller Art, um die benachbarte Reisegruppe zu übertönen. Verschnupfte(?) Männer, Frauen und Kinder ziehen gewandt und mit aller lautmalender Energie die letzten Schleimreste aus Lunge und/oder Magen und entleeren sich dann genüßlich und möglichst laut auf dem Pflaster. Das Leben ist mitten unter uns ;-)
Und wir in ihm, denn mit all den Menschenmassen ziehen wir nun aus südlicher Richtung kommend in den Himmelstempel ein, genau wie einst die Kaiser, die sich hier als Abkömmlinge des Himmels mittels Opfergaben und Ritushandlungen regelmäßig wieder mit ihm verbanden oder für seine Himmelsgaben (wie zB die Ernte) beteten oder dankten. Wir schreiten die Marmorwege entlang und versuchen uns in die einstige Zeit hineinzufühlen. Die Zahl 9, die als Kaiserzahl gilt, begegnet uns hier überall. Faszinierend die kobaltblauen Ziegel, die die Himmelsfarbe versinnbildlichen und vor allem all die hervorragend restaurierten Wandbilder, die in der Ming-Zeit entstanden. Im Zentrum der riesigen Anlage kann sich jeder Besucher auf eine kreisrunde Marmorplatte stellen und von sich behaupten, nun im Zentrum der Welt zu stehen, das Zentrum der Welt zu sein - denn genau hier war der kaiserliche Ort.
Als ich dieser Tage vom Glück sprach, welches uns plötzlich so bereitwillig folgt, vergaß ich zu erwähnen, dass man mit seinen Glückswünschen manchmal vorsichtig umgehen sollte. Der Traum von der Sonne kann sich nämlich schnell in einen Fluch verwandeln. Bei bedecktem Himmel sind auch relativ hohe Außentemperaturen halbwegs erträglich. Verflüchtigen sich die Wölkchen aber mehr und mehr, können Menschen schnell an ihre körperlichen Grenzen stoßen. Ein Blick in die verschwitzten und erschöpften Gesichter (nicht nur meines) zeigt, das sich die Kaiserstadt Beijing besser nicht immer von ihrer allerbesten Seite zeigen sollte.
Rüsten wir uns hinter den kühlen Glasfronten des Hotels (bei dem der Beamte diesmal mit klarem Blick seine 5 Sterne vergab) nun besser für den morgigen Tag, der uns ganz sicher noch mehr fordern wird - wir machen hier ja keinen Urlaub und sind auch nicht auf einem Ponyhof.
Tag 11
15. Juli 2018
Auf gehts, zum intensivsten und spannendsten Tag in Peking.
Bevor wir uns Schritt für Schritt den kaiserlichen Gefilden im Sommerpalast nähern, müssen wir diverse Hürden überwinden, wie alle anderen Menschen und Drachen seit Jahrhunderten auch: Hitze, Wassermangel (Flaschen vergessen), Dämonenschranken an den Toren, Fabelwesen mit Drachenköpfen, Löwenschwanz, Ochsenhufen, Rehgeweih und Schuppen überall am Körper. Direkt vor dem Kaiserthron, wo der Himmelssohn seine Minister einst zusammenrief, tummeln sich nun die "Untertanen" einer roten Flagge mit 5 Sternen und richten genau wie wir ihre Handys zu den überaus prachtvollen Palastgebäuden, um diesen Moment festzuhalten. Wir schreiten durch einen hölzernen Wandelgang, der über viele hundert Meter entlang des über und über mit Lotusblüten bedeckten Sees führt und mit kleinen kunstvollen Geschichten bemalt ist, um den Kaiser und seine Konkubinen beim Spaziergang bei Laune zu halten. Wir erreichen am Ende das berühmte marmorne Schiff, welches in der Lage ist, nie zu sinken - aber auch nie voranzukommen. Nichts im Leben ist vollkommen...
Auf dem Weg zur Verbotenen Stadt überqueren wir den Tianmen-Platz. Maos Mausoleum lassen wir links liegen, fühlen uns von Unmengen Kameras auf den umliegenden Regierungsgebäuden beobachtet. Man gewöhnt sich ganz schnell daran. Unter Maos riesigem Porträt hindurch bewegen wir uns auf die unterschiedlichen Hallen der Harmonie zu, natürlich wie immer vorher komplett kontrolliert; ab durch den Scanner. Franz klärt uns rechtzeitig darüber auf, dass wir mit unendlichen Menschenmassen zu rechnen hätten, die ebenfalls die wenig verbliebenen Denkmäler der Vergangenheit bewundern möchten. Es sind täglich höchstens 80.000 Besucher auf der gesamten Anlage zugelassen.
Ich wage es kaum zu sagen, aber auch heute haben wir das Glück gepachtet. Erwartungsvoll nähern wir uns den Sehenswürdigkeiten und werden völlig überrascht: die Plätze sind menschenleer. Des Rätsels Lösung: zufällig werden zu dieser Stunde Staatsbesucher erwartet (die Limousinen sind teilweise schon vorgefahren), sodass auch wir - sicherlich aufgrund unseres staatsmännischen Auftretens - frei das Gelände bestaunen und zum großen Teil betreten können.
Ich gehe nicht auf die historische Bedeutung der Plätze ein und auch nicht auf den Stellenwert, den all diese Kulturschätze heutzutage einnehmen. Es sind die kleinen Dinge, die mich jetzt erfreuen, die lebendig sind und das Leben zeigen; so freue ich mich über Yoko, die sich spontan zu den tanzenden Damen auf den Vorplatz gesellt und den Drachen taumeln lässt oder die Spaziergängerin, die sich von der Dame mitreißen lässt, die einen kleinen Kassettenrekorder angeschaltet hat und ihre ausgebildete Sopranstimme zu der Konserve über den Platz erschallen lässt.
Der gesamte Tag ist aufregend, anregend, anstrengend, aufwühlend, berührend, schweißtreibend, an Grenzen bringend - alles in allem wunderbar.
Was fehlt als wichtiges Highlight in Beijing? Die Ente! Diese traditionelle Köstlichkeit genießen wir ermattet in einem einfachen Lokal, wo wir die glänzenden Leiber mit der knusprigen Haut vor unseren Augen fachgerecht filettiert aufgetragen bekommen und darin eingewiesen werden, wie wir die Stückchen verkosten müssen (eingewickelt in zarte Fladen, die mit Sößchen und zartem Gemüse bestückt werden). Ich freue mich über den köstlichen Geschmack, mit dem ich so nicht gerechnet hätte.
Erstaunlich am heutigen runden Tisch ist, wie der kredenzte Schwarzhirseschnaps mit einem Schlag müde Geister erweckt, Zungen löst und zu nicht endendem Gelächter führt. Was seid ihr doch für tolle Typen, ihr alle an unserem Tisch!
Wirklich müde schleppen wir uns am Ende durch die Hotellobby, aber wie gesagt: das hier ist kein Ponyhof, nein, wir treffen uns nun gegen 21 Uhr NEBEN der Champagner-Bar zu einer Fragestunde mit einer ganz frisch ernannten jungen ZEIT-Korrespondentin, die künftig für verschiedene Ressorts in China Verantwortung trägt und ihre persönliche Geschichte ein wenig darstellt. Schön die Verbindung zu Freiburg, unserer Heimatstadt, in der die junge Frau als Kind von Chinesen aufgewachsen und in Wittnau zur Schule gegangen ist. Da sie erst seit 3 Wochen vor Ort ist, kann sie die aufkommenden Fragen noch nicht wirklich beantworten. Es kommt auch kein weiterer Diskussionsbedarf bei den wenigen verbliebenen Zuhörern auf, also wünschen wir uns nun einfach eine gute Nacht!
Tag 12
16. Juli 2018
Schlaftrunken heben wir am Morgen unsere Köpfe. In regelmäßigen Abständen klopft es gemütlich ans Fenster. Was? Regen? Macht nichts. Wir haben ja heute unseren freien Tag. Wie bitte? Freier Tag? In einer Anwandlung von kühner "Abenteuerlust" haben wir uns wie so viele andere aus den Gruppen Hamburg und Shanghai zu einem gebuchten Tagesausflug hinreißen lassen. Irgendwie fürchteten wir wohl, uns in der riesigen Metropole ansonsten nicht zurechtzufinden und Zeit bei der Suche nach etwaigen Zielen zu vergeuden. Das Hauptproblem: die unleserlichen Schriftzeichen ;-)
Also gut. Da auch hier der Reiseleiter Franz heißt und tatsächlich der unsrige ist, begeben wir uns gemeinsam genüßlich zurückgelehnt auf eine Rikschafahrt durch die traditionellen Altstadtbereiche Beijings, den sogenannten Hutongs. Als die Mongolen Beijing einst als Hauptstadt besiedelten, bauten sie rund um kleine Wasserbrunnen (übersetzt: Hutong) Innenhöfe, um die herum Häuser errichtet wurden. Der Name ist geblieben, die Anlagen auch, allerdings läßt ein erster Blick in die schmalen Gassen erahnen, dass das Leben hier nichts zu tun hat mit dem in den gleißenden Hochhäusern auf der anderer Straßenseite. Wir lassen uns von der Ruhe und den kleinen Überraschungen am Wegesrand gerne mitnehmen. Ein Fleischwolf an der Außenwand eines Hauses, ein abgesessener Sessel davor, kleine Gürkchen, die sich an einem Seil die Wand emporhangeln, Bienchen (!), die eine Blüte bestäuben, Fahrzeuge, bei denen man sich die Augen reibt, da sie trotz einiger für uns unerklärlicher Äußerlichkeiten fahren, verstaubte und komplett verdreckte Fensterscheiben, die Mode á la Paris anbieten. Gegensätze, die uns faszinieren.
Nun lassen wir uns wieder von der Moderene einfangen. Zügig geht es zum Kurzbesuch auf das Olympiagelände von 2008.
Auch hier wiederholt sich das chinesische Prinzip, den Himmel als Kreis und die Erde als Viereck darzustellen. So sind das architektonisch beeindruckende Vogelnest (zentrale Sportstätte) und die komplett blau eingepackte Schwimmhalle direkte Nachbarn auf dem weitläufigen Gelände mitten in der Stadt.
Da die Küche im Norden Chinas etwas eintöniger wird, macht es uns nichts aus, nach dem Mittagessen direkt ein Lama-Kloster zu besichtigen. Am Eingang appelliert ein mehrsprachiges Schild an Frieden, gehalten in Mandschurisch, Chinesisch, Tibetisch und Mongolisch. So unterschiedlich entwickeln sich Schriftzeichen, ein wunderbarer optischer Vergleich. Unser Ziel ist es, die Haupthalle am Ende der Klosteranlage zu betreten, denn dort steht ein imposanter Weltrekord-Buddha. Es ist nicht seine Höhe von 18m, die uns gleich mit offenem Mund erstaunen lässt, es ist seine Konsistenz. Komplett aus Sandelholz gearbeitet, musste dieses Geschenk über 3 Jahre aus Tibet hierher transportiert werden, um mit seiner goldfarbenen Strahlkraft die Gläubigen zu entzücken. Aber tatsächlich nicht nur diese.
Innerhalb von Sekunden verdunkelt sich beim Verlassen der Anlage der Himmel und genauso schnell ergießen sich kübelweise Wassermassen auf unsere Häupter. Aber als vom Glück Verfolgte ist – zack, zack, wie unser Guide uns immer wieder einbläut – der Bus wie von Zauberhand schon vorgefahren und bringt uns wohlbehalten nach Hause.
Da einige aus den Gruppen einen Pekingoper-Besuch gebucht haben, gehen wir zum Abendessen getrennter Wege. Wer steht vor der Hotelhalle, als wir uns versammeln? Oliver Harms, unser vermisster ZEIT-Experte hat sich spontan zu uns gesellt, um mit uns zu speisen. Er wusste von unserem Wunsch, ihn erneut zu treffen und hat sich auf den Weg gemacht. Chapeau!
Einige behauten, dass wir heute Abend im fußläufig zu erreichenden Restaurant die besten Mahlzeiten der gesamten bisherigen Reise zu uns genommen haben. Das stimmt, liegt vielleicht aber auch am Pflaumenwein (42°), der die Herzen einiger Teilnehmer erwärmt.
Beschwingt gehen wir zurück, stapfen unerschrocken durch knöchelhohe Wasserlachen, da eben erneut tonnenweise Regen über uns verteilt wurde. Innerhalb weniger Minuten ist auch dieser Spuk vorbei.
Und erneut erwartet uns ein Höhepunkt: Frank Sieren, ein weiterer hochkarätiger China-Experte, der ebenso wie Oliver in Beijing lebt, steht in Shorts in der Lobby und umarmt herzlich Freunde und Bekannte von vergangenen ZEIT-Reisen. Große ZEIT-Familie, denke ich mir. Erneut sind wir zu einem Abendvortrag eingeladen, bei dem beide Experten zu Wort kommen werden. Frank Sieren entschuldigt seine extravagante Abendrobe damit, dass er mit dem Fahrrad vorfahren musste – bei Regenschauern der Art, wie wir sie selber gerade miterlebt haben, bricht der Autoverkehr in der Metropole gewöhnlich unverzüglich zusammen und so gibt es kein Fortkommen mehr. Leichter schlängelt man sich da mit dem Zweirad durch die Staus.
Aber nun lauschen wir einem Feuerwerk an neuen aktuellen Informationen zu den rasanten Entwicklungen in unserem Gastgeberland. Wenn die Einschätzungen Sierens stimmen, wird sich die gesamte Welt von China ausgehend schneller verändern, als alle Spekulationen bisher vermuten ließen. Wir haben schließlich heiße Ohren, als wir uns zu später Stunde zurückziehen. Ausnahmsweise überlassen wir die Bar diesmal den anderen und gehen erfüllt von den Eindrücken zu Bett.
Tag 13
17. Juli 2018
Wir wolln die Mauer sehn, wir wolln die Mauer sehn!
Klar, das gehört zu jedem ordentlichen Chinareiseprogramm dazu. Jeder muss einmal auf ihr gestanden haben, das wusste bereits Mao – erst dann ist man ein Mann, so verkündete er. Ah ja...
Auf dem Weg nach Datong werden wir an Bord unseres großen Autos von Wolfgang und Franz fleissig kulturgeschichtlich hinsichtlich der chinesischen Mauer aufgeklärt. Aus Einzelgesprächen höre ich heraus, dass einige Teilnehmer voller hoher Erwartung nach diesen mythenumwobenen Gemäuern ausspähen; eine Begehung gehört dazu, wenn man in der Welt herumgekommen sein will.
Der Blick aus dem Bus ist ernüchternd. Noch erkennen wir die Umrisse wunderschöner kegelförmiger grün bewaldeter Bergformationen, dann aber verliert er sich, der suchende Blick, mehr und mehr in diesigem Nebel. Aufkommender Regen vernebelt dann auch Stück für Stück die Laune. Bei 23° C nutzen irgendwann Schirme und bunte Regencapes nichts mehr. Ein Gruppenfoto mit ausgerolltem ZEIT-Banner gelingt auf den glitschigen ausgetretenen Steinplatten der berühmten Mauer (die man ja in Wirklichkeit als chinesische MauerN bezeichnen müsste) nur mühsam und es schaffen auch nicht alle Teilnehmer komplett dabei zu sein. Also verziehen wir uns in ein rettendes kleines Cafe, von wo wir einfach in den Nebel starren, Touristen beobachten, scherzen und bunte Schirme oder schöne Gesichter fotografieren können. Der Verlauf der Mauer bleibt uns nur schemenhaft in Erinnerung. Ich bin froh, bei der letztjährigen Reise eine andere Erfahrung gemacht zu haben.
Wie es so kommen muss – wir verlieren trotz vielfacher Vereinbarungen ein Gruppenmitglied. Bei diesem Wetter macht es keinen Spaß, Zeit mit warten und suchen zu verlieren, aber ich denke immer daran, dass es irgendwann ja auch mich treffen könnte und die anderen aus irgendwelchen Gründen auf mich warten müssten. Also bleibe ich geduldig.
Nach ein paar Stunden Fahrt Richtung Datong ändert sich deutlich die Landschaft. Nach fruchtbaren Ebenen voller kleiner Parzellen mit reichlich Gemüse- und Früchteanbau wird es langsam karger, aber auch spannender, vor allem aber wettermäßig heller und viel freundlicher.
Als sich unsere beiden Busse Richtung Hotel zubewegen, erkennen wir schon von weitem, das vor unserer etwas heruntergekommenen Unterkunft ein Aufgebot an bunt gekleideten Menschen aufgestellt ist. Beim Ausstieg ertönen kraftvolle Perkussionsklänge und ein von einer energischen Dame geleitetes Frauenensemble spielt und tanzt uns ein Willkommen, dass es eine wahre Freude ist. Während wir zum Mittanzen aufgefordert sind, versammeln sich mehr und mehr Einheimische, um dem Spektakel beizuwohnen. Eine schöne Geste! Während des Essens zeigen vier junge Musikerinnen auf alten Instrumenten ihr Können. Dass sie parallel gerne Musik aus der Konserve zur Begleitung ihrer eigenen Musik verwenden ist mir nun schon öfter auch in Parks und öffentlichen Anlagen begegnet. Ihr eigenes Können ist jedoch meist auf hohem Niveau angesiedelt.
Freunde der Nacht, für uns ist nun das Ende des Tages angesagt.
Tag 14
18. Juli 2018
Unser heutiger Datonger Guide ist ein echter Lokalpatriot. Stolz erzählt er uns von der guten Luft in seiner Stadt, während wir an rauchenden Schloten und dampfenden Kohlekraftwerken Richtung nächstes Weltkulturerbe brausen: einem hängenden Kloster. Tatsächlich scheint sich die Stadt im aufstrebenden Modus zu befinden; die Geisterstädte, die auch hier rundum entstehen, sind sichtlich von Bauarbeitern bevölkert, Brückenpfeiler für Hochgeschwindigkeitszüge wachsen meilenweit sichtbar aus der Landschaft heraus, aus kleinen Maisparzellen, die zuvor vielleicht eine oder zwei Familien ernährten, werden hier große, so wie wir sie aus dem Süden Deutschlands kennen.
Mit starkem Sonnenschutz ausgerüstet nähern wir uns, den Kopf permanent in den Nacken gelegt, dem wie Schwalbennester in Sandstein eingebetteten Hängenden Kloster Xuankong Si, welches wirkt als hätte es sich in den Steilhang eines Heiligen Berges hineingeschmiegt. 40 winzige Hallen sind entlang der Wand auf Holzträgern ruhend in teils natürliche Felseinbuchtungen gebaut. Sicherlich auch dem schönen Wetter geschuldet sind hier heute schon viele Touristen eingetroffen, die sich alle geduldig anstellen, um die Stufen nach oben zu erklimmen. Es darf immer nur eine bestimmte Anzahl an Menschen durchgelassen werden, da die Stufen stark abgenutzt sind und die Wege sehr eng und steil werden. Absicherungen nach unten gibt es nicht; viele haben daher große Sorgen, wieder heile unten anzukommen. Es schaffen aber alle.
Nächstes Tagesziel sind die Yungang-Grotten. Sie gehören zu den wichtigsten Zeugnissen der buddhistischen Steinmetzkunst und führen uns 1500 Jahre zurück in die Vergangenheit. Vorbei an den fast erleuchteten Elefanten mit ihren 6 Stoßzähnen stellen wir uns nun selber unter den goldenen Baum der Erleuchtung. Mal sehen, ob das wirkt... Eine komplett nachgebaute prachtvolle Klosteranlage muss durchschritten werden, bevor wir das letzte Weltkulturerbe des heutigen Tages anschauen dürfen, die Buddha-Grotten. 51.000 große (17m) und kleine (2,5cm) Buddhas warten auf uns. Da wir jedoch schon so richtig spät dran sind, konzentrieren wir uns auf die Details von einigen wenigen schönen Exemplaren.
Manfred und ich haben im letzten Jahr bereits 2 der 3 existierenden Grotten besichtigen können, aber diese Anlage hier beeindruckt mich am meisten. Höhlenhallen wie Kathedralenschiffe. Die Grotten sind teilweise bis unter die Decke mit Buddhas, Symbolik oder Szenerien aus dem Alltag bestückt. Die Farbgebung mithilfe von Muschelkalk, Lapislazuli, Mineralien oder Kohle ist ebenfalls zu einem guten Teil im Original erhalten geblieben, also über 1500 Jahre alt, sofern das Sandgestein selbst nicht der Verwitterung anheim gefallen ist. Datong hat bei dieser Anlage alles gegeben. Ein entspanntes Dahinwandeln bei langsam versinkender Sonne, leeren Plätzen und angenehmen Temperaturen versüßen uns den erlebnisreichen Tag.
Abendessen ist langweilig; heute verzichten wir einfach mal darauf.
Tag 15
19. Juli 2018
Während der langen Fahrt gen mongolische Grenze (460km) müssen wir einmal kurz abfahren, da ein Stau auf der Autobahn angekündigt ist. Also geht es über Land, ein Wunsch, der schon öfter aufgekommen war. Aber auch hier ist aufgrund von Straßenreparaturen ein kleiner Stau entstanden, wo man genauer hinschauen und beobachten kann. Das ist also das aufstrebende China? Stark verwahrloste Hinterhöfe voller Schrott und/oder Müll, Frauen, die vor den Haustüren ihre Wäsche in Bottichen per Hand rubbeln und waschen, Männer, die ihre Notdurft offen in der Landschaft ausüben (immer mit dem Handy in der Hand), Fahrzeuge aller Art, die aussehen, als wären sie frei Schnauze auf einem Schrottplatz zusammengebaut. Gut, es gibt wachsende prosperierende Städte, aber auch dort entlarvt der Blick aus den Hotelzimmern in die Hinterhöfe einen Zustand, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Ich würde auch nicht sagen, dass diese Beobachtungen mit der Tatsache zu tun hätten, dass wir uns im Grenzgebiet zur Mongolei befinden. Sowohl im Westen als auch in den wohlhabenden östlichen Gebieten herrschen ähnliche Zustände. Meine Zweifel bezüglich eines aufstrebenden Chinas bleiben auch in diesem Jahr bestehen; ein Großteil der Bevölkerung spürt dies meiner Einschätzung nach noch nicht, noch lange nicht.
Die Gegend, durch die wir fahren gibt Wolfgang die glänzende Gelegenheit, uns erneut mit den geologischen Gegebenheiten vertraut zu machen, aber auch, ausführlich über das Vorkommen von Saurier-Funden zu berichten. Was ich lerne: achte darauf, wenn dir irgendjemand ein versteinertes „Original“-Saurierei anbieten sollte, es ist im Regelfall ein gut gemachtes Fake-Ei. Finde selber eins. Die Chancen stehen wohl nicht schlecht.
Wir tuckern recht gemütlich durch die Gobi, als sich urplötzlich der Himmel verdunkelt. Die Geschwindigkeit ist irritierend. Als aber dann ein Wolkenbruch niedergeht und der Regen laut gegen alle Scheiben trommelt, wir draußen nichts mehr erkennen können, Blitze über den Himmel zucken und der Donner unverzüglich danach laut grollt, wird uns mulmig zumute. Kaum lichtet sich der Blick, befinden wir uns nicht mehr in der Wüste, sondern mitten in einem reinen Wattenmeer; alles ist überschwemmt, ein Schäfer kauert sich eng mit seiner Schafherde zusammen und harrt der Dinge, die da wohl noch folgen. Ich hoffe, im Hotel an der Grenze gibt es heute Abend den berühmt-berüchtigten Gobi-Fisch als Spezialität.
Die gut ausgebaute vierspurige Strecke ist menschenleer. Erste Jurten säumen den Wegesrand. Das Wetter hat sich wieder beruhigt.
Was uns aber nun erwartet, glaubt uns wahrscheinlich niemand – nachdem wir uns Erenhot, unserem grenznahen Zielort nähern, zieht sich erneut ein merkwürdiges Wetter zusammen.
Nur noch schemenhaft erkennen wir die links und rechts der Straße vorüberhuschenden Sauriersilhouetten. Ist ja schon merkwürdig genug. Kaum aber haben wir die Stadt erreicht, gibt es erneut einen Wolkenbruch. Ja, das kennen wir bereits. Peking hat es vorgemacht. Wir wissen, dass es keine Kanalisation gibt und wir wissen auch, dass Wasser auf diese Weise nicht vernünftig ablaufen kann. Hier, mitten in der Wüste hat mit einer solchen Situation auch wahrscheinlich keiner gerechnet, aber erneut platzen in Sekunden unfassbare Wassermassen auf uns ein. Blitzschnell sind die Straßen überschwemmt. Das Wasser steigt und steigt. Das geht in Sekundenschnelle. Christian, der sonst ja keine Gnade kennt, stoppt dann doch irgendwann, da wir verfolgen können, wie die Wassermassen in die Haustüren strömen, Mopeds mitgerissen werden und Autos einfach absaufen. Das geht unfassbar schnell. Ein Park wird vor unseren Augen in Windeseile von kleinen Wasserfällen, die die Treppen hinabrauschen, überschwemmt. Wohlgemerkt: wir befinden uns in der Wüste Gobi, mit einer normalen durchschnittlichen jährlichen Niederschlagsmenge von ca. 1000mm!
Wir ziehen unsere Schuhe aus und rennen ins Hotel, welches gottseidank etwas erhaben liegt. Aber auch hier helfen die aufgestellten Schüsseln und Bottiche nichts mehr. In Strömen wird der Boden im Restaurant vom herabtropfenden Regen überschwemmt. Gut, wir haben eine Pionierreise gebucht. Wir haben sie bekommen.
Was wir uns nicht nehmen lassen: unsere fröhlichen Abendrunden! Gruppe Shanghai mischt sich schnell unter unseren round table. Guter Anfang!
Tag 16
20. Juli 2018
Unser heutiges Hotel zu verlassen ist allen ein großes Vergnügen. War kein schönes. Hier parkten über Nacht auch Wohnmobile, die gerade losfahren wollen. Plötzliches Chaos: ein Mobil ist mit dem Hinterrad komplett im Asphalt versunken. Der gestrige Regen hat wohl den stabilisierenden Untergrund aufgeweicht und weggeschwemmt. Hätten wir dort geparkt, wäre das Desaster womöglich unseren Bussen passiert…
Wir können nun unbehelligt und unverzüglich die wenigen Kilometer zur Grenze zurücklegen. Überraschend unkompliziert wechseln wir die Länder: gute 1,5 Stunden dauert das gesamte Procedere. Unser neuer Guide heißt Zula (Tulpe). Sie empfängt uns sehr herzlich und beginnt sofort, ihr Land vorzustellen.
Aber kurz nach der Grenze schon muss sie unterbrechen. Aufgrund der Regenfälle, die wir ja gestern miterlebt haben, ist unsere Hauptstrecke durch die Wasserschäden nicht befahrbar. Es gibt tatsächlich nur eine einzige Lösung: sich quer durch die Wüste vorzutasten, um diese Unpässlichkeit zu umfahren. Nachdem Christian mit unseren Begleitfahrzeugen die Wüstenstrecke prüfend abgefahren ist, mutieren wir zu Wüstenschiffen. Die dunklen Neoplane wanken durch den Sand, nachdem sich die Bordpassagiere alle in den rückwärtigen Teil drängen, um das Hauptgewicht auf die Hinterachsen zu verlagern. Wir alle wissen, wenn wir hier stecken bleiben, bedeutet das erstmal das große Aus für alle. Aber ganz souverän schippert uns Christian auf den ersehnten Asphalt und erst jetzt darf uns der 2. Bus folgen.
Auf dieses kleine Abenteuer hin brauchen wir eine kleine Kaffeepause und dann lehnen wir uns zurück, lassen die Blicke in die ergrünte Wüste schweifen und lauschen den Geschichten von Mönchsgeiern, Kaiseradlern, der weiblichen und männlichen Kamelwolle, Pfeifhasen oder dem einzigartigen Gobi-Bären. Von diesem wildlebenden Bären existieren weltweit nur noch 26 Stück, vorwiegend männliche Exemplare. Das Weibchen bekommt alle 2 Jahre zumeist Zwillinge. Die Tiere sind keine Fleischfresser, sondern leben von Rhabarber, Wurzeln und kleinen Insekten und sind leider vom Aussterben stark bedroht. Ich hoffe, viele hiesige Pflanzen zu sehen, wie Tamariske, Edelweiß, Steppenbeifuß, Alraune und den Saxaulbaum. Aber jetzt will ich mich gerne weiter in der Ferne verlieren, in der endlosen Steppe, in der offenen und freien Landschaft, Pferde und Kamele beobachten. Es ist so: Hier berührt der Himmel die Erde!
Nach dem Passieren des ersten kleinen Städtchens Sainshand mit seinen paar Tausend Einwohnern wollen wir nach links abbiegen. Dort soll unser Ger-Camp liegen. Nach kurzer Inspektion wird dieses Vorhaben gecanceled, die Löcher zu tief, der Untergrund zu schlammig, die Gefahr stecken zu bleiben zu groß. Also suchen wir uns erneut eine kilometerlange Route mitten durch die Wüste. Das Abenteuer beginnt. Schaffen wir den Hügel, ohne dass die Achse bricht? Abwartend verfolgen wir, wie der Bus vor uns rangiert und sich zentimeterweise vorarbeitet. Am Schluss schaffen es beide. Ich glaube, dass das noch keiner gesehen hat: 2 riesige dunkle Busse, die sich ihren Weg zum Ziel durch die weite Wüste bahnen.
Dann aber ein zauberhafter Anblick: unser Camp leuchtet weiß aus dem Wüstengrün hervor. Wie sagen die Mongolen: Wenn ein Gast den Regen mitbringt, ist er ein höchst gern gesehener und sehr willkommener Gast. Machen wir doch alles gerne! Ein paar Tropfen haben wir dabei.
Entzückt erkennen wir, dass das Camp nur von uns bewohnt wird. Wir wissen, dass dies ein touristisches Jurtendorf ist, aber wir riechen trotzdem die durchdringenden Gerüche der Tierfelle der Ger-Außenhaut, liegen trotzdem zufrieden auf den hölzernen Bettuntergründen, wandern trotzdem zu den gemeinsamem "Sanitäranlagen" ohne Duschen usw., lassen trotzdem kleine Tierchen über den Holzboden krabbeln. Die meisten machen das - bis auf wenige, die dann etwas luxuriösere Jurten erwischen. Diesmal ist uns das Glück der Zuteilung von besonderen Unterkünften in den Schoß gefallen, sogar mit eigenem Bad, teilen aber gerne mit den anderen, denn am Abend schleichen nach und nach die üblichen, aber auch neue Schlummertrunksuchende in unser Gemach und feiern mit uns diesen glücklichen Tag mit Rasputin, Dschingis Khan, Bambusschnaps, Cola-Bier!
Tag 17
21. Juli 2018
Mongolei , meine Musik, meine Lieder,
aus der Tiefe der endlosen Steppe,
der weiten nackten Wüste,
wo der Himmel die Berge berührt,
die Wolken am Schönsten,
die Winde am Zornigsten,
der Duft der Erde würzig,
die Sterne das Paradies zeigen,
und die Mythen lebendig sind.
- Enkhjargal Dandarvaanchig (Epi) -
Der Tag beginnt heute nahtlos mit dem Ende des letzten.
Nachdem sich die lustigste Runde aus den Teams Hamburg/Shanghai aus unserer Jurte langsam zurückzieht und absolute Ruhe im Camp einkehrt, wandern Manfred und ich ein Stück hinaus in die Weite, um der Empfehlung von Zula zu folgen, uns die Milchstraße anzuschauen. Noch leuchtet der Mond, ist jedoch im Untergang begriffen, sodass wir doch tief in die Unendlichkeit des Weltenalls hineinschauen können – dies bei sanftem Wind und absoluter Stille. Meine Ohren küssen mich; diese Stille, die es bei uns zuhause gar nicht gibt, ist eine einzige Wohltat.
Als sich die Sonne am Morgen am Horizont erhebt, bin ich schon wieder draußen. Die Pferdeherden lassen mich nicht an sich heran. Sie halten einen konstanten Abstand zu meinen Annäherungsversuchen, indem sie sich ruhig grasend Schritt für Schritt weiterbewegen. Bei jedem meiner Schritte streife ich die Lauchbüschel, die einen wunderbaren, appetitlichen Duft über der Wüste verbreiten. Ich hätte nie geahnt, dass über hunderte von Kilometern Schnittlauch die Gobi bedeckt.
Hier, an diesem Ort kann ich die oben formulierten sehnsuchtsvollen, liebevollen Worte von Epi, einem der allerbesten Musiker der Mongolei nachempfinden, bei dem ich einst die Pferdekopfgeige gespielt und den Obertongesang gelernt habe.
Das Frühstück mit dem selbst hergestellten Joghurt und den köstlichen Marmeladen mundet in dieser reinen Luft auf gut 1000 Metern Höhe vorzüglich. Wir verlassen das Ger-Camp bei Sainshand ausgesprochen ungern.
Während der nun folgenden schier endlosen Fahrt Richtung Hauptstadt Ulaanbataar erfahren wir alles über das Alltagsleben der Mongolen, den arbeitsreichen Tag der Frauen, Herstellung von Rahmbutter, Quark, Versorgung der Tiere, Hochzeiten, Feste usw.
Hunderte von Kilometern zieht die Wüste an uns vorbei. Weit und breit nichts als grüne flache Ebene oder ausgetrocknete Gestrüppgürtel. Dann mittendrin plötzlich ein Fußgängerübergang mit Zebrastreifen. Ja, warum aber auch nicht? Für ein Foto ist es mindestens nütze.
Immer wieder sehen wir aufgeschichtete Steinhaufen, die schamanischen Ritualen dienen. Immer wieder auch verendete Tiere, die von Geiern und anderen dankbaren Tieren und Tierchen zerfleddert werden oder aber austrocknen. Leider kann ich die Geier mit meiner Kamera nicht erwischen, husch, schon sind wir daran vorbeigeflitzt.
Mehr und mehr nähern wir uns der Hauptstadt der Mongolei. Fast die Hälfte aller ca. 3 Millionen Mongolen lebt hier. Sicherlich ist es verlockend, den Weg in den vermeintlichen Wohlstand anzutreten, weswegen viele ihre Jurten in einem breiten Gürtel um den modernen Kern der Stadt mit den üblichen Hochhäusern aufstellen. Mittlerweile ist jedoch auch wieder ein Trend zurück zu beobachten. Offensichtlich ist so manchem Nomaden bewusst geworden, welche Vorzüge ein freies Leben mit der traditionellen Viehzucht da draußen auch haben kann.
In unserem Hotel Kempinski werden wir sehr europäisch bewirtet, was viele Fleischesser bedauern. Mongolen verspeisen pro TAG 2,2 kg Fleisch. Es sind hier Babys, Alte und Kranke mit eingerechnet.
Dann erhebt sich plötzlich ein Herr an einem der Tische, greift zum Mikro und stellt sich als Christian Schmidt-Häuer vor! Unser neuer ZEIT_Experte ist eingetroffen, bekannt als Autor, Korrespondent der ARD und Reporter der ZEIT. Dann erhebt sich an einem anderen Tisch Prof. Dr. Maria Huber und stellt sich ebenfalls als ZEIT-Expertin für die nächsten Tage vor. Das wird ja nun richtig spannend werden!
Tag 18
22. Juli 2018
Mit vielen "Ahhhs" und "Ohhhs" starten wir in den Tag: die Luft ist klar und rein, die Sonne strahlt, die Temperaturen ideal für die Erkundung Ulaanbaatars.
Der zentrale Hauptplatz Sukhbaatar mit Regierungsgebäuden, Oper, Theater und neuen modernen (höchsten 25 Jahre alten) Hochhäusern ist fast menschenleer. Nur eine bunt gekleidete Menschenmenge zieht uns an. Eine Schulklasse trifft sich nach 40 Jahren wieder. Sogar der Lehrer (orangefarbener Kittel, siehe oben) ist dabei. Alle fallen sich herzlich in die Arme und tauschen Schnupftabakdosen aus (typisches Willkommen heißen). Nur wenn Fotos gemacht werden, muss man möglichst ernst in die Linse blicken. Auch eine Hochzeitgesellschaft mit nicht wirklich glücklich wirkendem Brautpaar in Weiß gruppiert sich mit den Gästen vor dem prächtigen Denkmal des Dschinghis Khan.
Wir genießen schlendernd die beschauliche Atmosphäre des Platzes, bevor wir in ein nahe gelegenes Lama-Kloster der gelbmützigen Buddhisten fahren: Gandantegchenfing Kloster. Es ist das wichtigste für die Buddhisten im Land und gut besucht. Auch hier kann ich ein Hochzeitspärchen fotografieren, aber eines, welches sehr glücklich wirkt und offensichtlich keine Muss- oder arrangierte Hochzeit eingeht.
Nun geht es in die neu erbauten modernen Bezirke der Stadt bzw. über sie hinaus. Ein Denkmal, welches als Dank an die Russen erbaut wurde, ist das Ziel. Wir bezwingen den Hügel und haben einen atemberaubenden Ausblick weit hinaus bis in die jurtenübersäten Randgebiete. 60% der Stadtbewohner leben übrigens noch in ihren Gers. Manchmal allerdings befinden sich diese auf den Dächern der Hochhäuser - eine witzige Alternative, wenn man als Nomade noch nicht so richtig weiß, was man will. Es ist übrigens eine wunderbare Orientierungshilfe zu wissen, dass die Öffnung einer Jurte immer gen Süden ausgerichtet ist. So haben wir unsere Fahrtrichtung immer gut im Griff.
Auf dem Aussichtshügel über den Dächern der Stadt und mit den mongolischen Hügeln im Hintergrund darf man für umgerechnet 2 Euro einen Adler auf dem Arm halten. Endlich geht hier ein Traum von Manfred in Erfüllung. Offensichtlich auch von Christian Schmidt-Häuer...
Der Abend endet im Theater von Ulaanbaatar, welches uns traditionelle Tänze, Gesänge und Musik auf höchstem Niveau bietet. Es kribbelt im Bauch und entführt in die Weite der mongolischen Steppe. Auch die anderen aus den Gruppen, die so etwas noch nie gehört oder gesehen hatten, sind bezaubert von den Ober- und Untertönen, den Pferdekopfgeigen-Orchester und den wunderschönen Tänzern und Tänzerinnen.
Tag 19
23. Juli 2018
Auf dem Weg zu unserem neuen Camp steuern wir einen einheimischen Supermarkt an. Auf den Wunsch einzelner hin benötigen wir die entsprechende Ausstattung für unsere abendlichen Vergnügungen. Feuerwasser in Jurten zu verköstigen hat sich ja dieser Tage schon ordentlich bewährt.
Wir finden hier bestens ausgestattete Abteilungen mit Obst, Gemüse, Fleischwaren, aber vor allem Süßigkeiten und geistige Getränke. Jetzt wissen wir, woher all die leeren Flaschen stammen, die wir draußen massenweise in der Steppe verteilt auffinden, manchmal sogar geopfert an den Owoos (kultische Steinhaufen), die wir jeweils 3x umkreisen und kleine Stein-Opfer aufwerfen, um damit die Reisegottheiten wohlgesonnen zu stimmen. Wir finden aber auch viele Krücken von Gesundeten, die ob ihrer Heilung hier Dank sagen, Geldscheine, Schüsselchen oder sonstige kleine Gaben.
Nicht weit entfernt von Ulaanbaatar beginnt der Nationalpark Gorkhi-Terelj. Wir steuern direkt auf einen der Wollsackfelsen zu, der im Laufe der Gezeiten eindeutig die Form einer Schildkröte angenommen hat und touristisch mehr und mehr frequentiert wird. Eine große Hotelanlage wächst in Sichtweite und steht schon stumm anklagend als Rohbau inmitten der großartigen Felsformationen. Wir befinden uns im Nationalpark – und schon beginnt die Zerstörung. Bevor es weitergeht, probiere ich eine Murmeltier-Fellmütze auf; leicht und weich und warm sitzt sie auf dem Kopf, wird bei den heutigen Sommertemperaturen aber schnell wieder auf die Seite gelegt.
Ein paar Kilometer weiter bleibt unser Bus stehen. Noch ist das gepriesene Camp nicht in Sichtweite. Dafür das Ger einer heimischen Nomadenfamilie, die uns bereits erwartet und mit Leckereien begrüßt. An der Wand hängt ein großer Sack aus Rindsleder, in den Stutenmilch gefüllt ist. Alle 2 Stunden wird umgerührt, bis die Endprodukte entstehen, wie z.B. vergorene Stutenmilch (Kumys). Über dem Vorratsregal hängen auf einer gedrehten Wollkordel aufgezogen kleine Fladen aus getrocknetem Quark und warten bis zu einem Jahr auf den Verzehr. Die ornamentreichen Schnitzereien der Truhen und die großzügige Ausstattung der Jurte erinnern mich dann doch eher an einen Showroom, deshalb werfe ich noch schnell einen Blick in das Nachbar-Ger. Hier wirkt es belebt und natürlich und auch sehr wohnlich. Draußen spazieren Hähne und Kühe, junge Männer reparieren sehr entspannt ein Motorrad auf der Wiese und ein Hirtenhund kämpft mit einem Kälbchen um einen Topf Fleischsuppenreste. Ein kleiner Junge spielt draußen auf der Weide mit einem Kälbchen, indem er ihm den Schwanz festhält, das davonrasende Tier aber auch nicht mehr loslässt und so kreuz und quer über die Wiese tollt. Nach einer Weile kann das kleine Jungtier nicht mehr und unser etwa achtjährige Junge legt beruhigend seinen Oberkörper auf dessen Rücken, schmiegt seine Hände um den Kalbsleib und bleibt so liebevoll umschlungen stehen, bis sich beide von dem wilden Galopp beruhigt haben und sich lösen können.
Nach einer kleinen Wanderung erreichen wir am Ende eines Tales unser kleines Ger-Paradies. Worte fehlen uns allen bei dessen Anblick. Endlich Frieden nach all dem Geruckel des Busses über die Pisten, den schnatternden Mitreisenden, den aufregenden vielfältigen Eindrücken der Fahrt. Wir beziehen unser einfaches Quartier und ergeben uns: der Ruhe, der Weite, der Schönheit. Während ein paar Mongolen unser Abendessen vorbereiten - diesmal Hammel in der Kanne - wandert jeder für sich in eine andere Himmelsrichtung hinauf auf die Hügel oder hinein in die Felsen und Wiesen. Wir entdecken blauen Enzian und Edelweiß in Mengen, putzige Erdhörnchen stehen wachsam auf ihren Hinterbeinen und beobachten ihre Umgebung, der schwarze Milan zieht geruhsam weite Kreise über uns. Langsam beginnen die Mägen zu knurren und wie von einer unsichtbaren Schnur angezogen versammeln sich alle mehr und mehr Richtung Feuerstätte. Die dortige Kanne ist schichtweise mit heißen Kieselsteinen, Fleisch und Kartoffeln angefüllt und alle warten auf das kleine Zeremoniell, als beim Öffnen der heiße Dampf entweicht und den Raum in der größten Jurte mit köstlichen Düften erfüllt. Es mundet allen vorzüglich. Nach letzten heißen Gesprächen an unserem Tisch mit Maria und Christian, unseren exquisiten ZEIT-Experten, mit denen wir ständig zusammenhängen, gehen wir müde zu unserer kleinen Jurte.
Tag 20
24. Juli 2018
Mitten in der Nacht. Yoko wundert sich, als wir sie links und rechts eingehakt zu ihrer Jurte begleiten: „Das habe ich ja noch nie erlebt, dass die Erde schwankt.“ So könnte man das auch sehen; Dschingis Khans Wässerchen vom letzten Abend hat dabei sicherlich mitgeholfen.
Aber auch unsere Nacht ist unruhig. Hunde jaulen sich über Täler hinweg klagend an und es wird bitterkalt. Die Kamelhaardecke reicht nicht mehr aus und ich ziehe alles über, was ich in meinem Rucksack vorrätig habe. Dann beginnt das Trommeln der Schamanen, welches sich nach gewissen zeitlichen Abständen eintönig wiederholt – immer dann, wenn man kurz weggedöst ist. Gegen 2 Uhr klopft Karl-Heinz gegen die Holztür - er wollte ursprünglich mit uns zusammen in die Milchstraße schauen - ich bin aber vor Kälte wie gelähmt und kann nicht mehr reagieren. Nicht nur wir stecken bei Sonnenaufgang zerfleddert unsere Köpfe aus den niedrigen Holztürchen. Alle wirken etwas schweigsam.
Die Nacht ist aber bald wieder fast vergessen. Nach einem schlichten Frühstück laufen wir uns die Köpfe frei, während wir den Weg zum Bus zurücklegen. Dabei verfolgen wir, wie morgens die Aktivitäten der Nomaden zunehmen. Blitzschnell treiben sie hoch zu Ross ihre Herden zusammen, egal ob Yaks, Kühe oder Pferde. Eine lange Holzstange in der Hand wirkt wie ein verlängerter Arm. Bewundernswert ihre Geschicklichkeit. Man sieht, wie verwachsen sie mit ihren Tieren sind.
Nun beginnt eine lange, lange Fahrt durch die sanfte mongolische Hügellandschaft. Während wir die grasenden Herden beobachten erklingt schwermütiger russischer Tango aus den 30er Jahren vom König des russischen Tangos, Pjotr Leschenko, den Christian Schmidt-Häuer uns ans Herz gelegt hat. Die Musik passt hervorragend zur Gesamtstimmung. Christian hat eine sehr unterhaltsame Art, seine Themen zu präsentieren und so erfahren wir in humorvollen Einzelgesprächen und bei seinen Vorträgen viele Details aus seinem beruflichen und persönlichen Leben. Gerne spreche ich aber auch mit Maria, die direkt vor mir sitzt. Sie hat eine sehr warme Art zu erzählen und so drehen sich unsere Themen um Ungarn, ihrem Geburtsland, um Zigarillos, die sie gerne schmaucht und sonstige Dinge des Alltags.
Wir verstehen uns alle sehr gut und so entscheiden sich Christian und Maria, die kommende Nacht in den Mehrbettzimmern bei Sukhbaatar an der Grenze zur Russland mit uns zu verbringen. Mit Yoko und Hanne haben wir uns ja längst verabredet. Was uns am Ende der Fahrt jedoch erwartet, lässt allen den Schrecken in die Glieder fahren. Dass wir einfach untergebracht sein werden ist allen klar, dass wir aber in solch verdreckte Überwürfe schlüpfen sollen, ein Klo mit 26 anderen teilen müssen und fast durch eine Decke fallen, bei der die fußgroßen Löcher mit einfachem welligem PVC abgedeckt sind, ist schwer für uns, würden wir aber am Ende des Tages hinnehmen - bis man uns dann doch eine Alternative anbietet, die wir 6 Tapferen glücklich annehmen. Wie auf den Fotos zu erkennen ist, sitzen wir nun in nachdenklicher Stimmung an unserem großen Tisch, vertiefen uns in hoch anspruchsvolle Literatur und diskutieren tiefgründige Fragen, die die Menschheit halt so aufwirft...
Nun gut, ich übertreibe ein wenig. Ja, wir diskutieren; ja, wir sind tiefgründig; ja, es dreht sich auch um Literatur. Was den Abend aber wirklich ausmacht, ist seine Heiterkeit, sein Witz, seine Unbeschwertheit, die Freude aneinander, die leckeren geistigen Köstlichkeiten. Pling, plong geht es hin und her mit Wortgeplänkel und Gelächter. DAS macht diese Reise aus. All die zuvor gejagten Insekten, Kakerlaken, Käfer und sonstigen Getiere stören uns nun nicht mehr. Alle fallen irgendwann erschöpft auf ihre Bodenmatratze und tauchen ein in tiefen Schlaf.
Tag 21
25. Juli 2018
Nach einer Katzenwäsche an einer der Freiluft-Waschbecken, die extra für uns sauber geschrubbt worden sind, wandere ich mit Manfred ein letztes Mal über die Hügel dieses schönen Landes, bevor wir müde wie alle anderen auch an unserem letzten mongolischen Frühstück nippen. Nun ruckeln wir sorgenvoll zur 30km entfernten Grenze. Was wird uns erwarten?
Wir werden angenehmst überrascht. Sicher, eine Grenzübertritt dauert immer ein paar Stunden, aber diesmal überbrückt Christian diese Zeit mit kurzweiligen Erzählungen und Vorlesen. Der geborene Geschichtenerzähler! Die Zeit vergeht wie im Fluge. Die Zöllner machen ihre Arbeit pflichtgemäß, ordentlich, aber freundlich. Der Bus muss bei den Russen zwar komplett leergeräumt werden, aber auch das passiert ohne Schikanen.
Die Spannung schwindet und zurückgelehnt geben wir uns erneut der Landschaft hin. Kleine Wäldchen aus Ulmen, Schwarzkiefern und Birken tauchen auf, die Landschaft bleibt wunderschön. Wir haben das Glück, dass uns Christian auch jetzt noch vieles zu erzählen hat und wir so wie im Fluge Ulaan-Ude erreichen. Unsere erste russische Stadt.
Endlich wieder duschen können! Und nun statt Abendessen im russischen Barockstil des Hotels raus in dieses neue Abenteuer Russland mit Leninkopf und tanzendem Springbrunnen im Rhythmus von klassischer Musik.
Tag 22
26. Juli 2018
Wir befinden uns im Einzugsgebiet des Baikalsees. Hüglige bewaldete Landschaft, dörfliche Ansiedlungen, wilde Flüsse (unbegradigt, frei fließend), ordentlicher Straßenverlauf.
Unsere neue russische Reisebegleitung Larissa liest uns viel Zahlenmaterial zu der Gegend und den hier ansässigen Burjaten vor. Wir hören geduldig zu.
Farbenfrohe Fensterumrandungen und Dächer in Blau-, Grün- und Türkistönen hellen die Straßenbilder der dörflichen Strukturen auf. Es wird fast ausschließlich Holz für die Ansiedlungen verwendet. Walm- und Spitzdächer wechseln sich ab. Obwohl nur 3,1 Menschen/qm in Burjatien leben, haben sich offensichtlich die meisten entlang unserer Strecke niedergelassen. Kleine Gärten mit gerade erblühenden Kartoffelfeldern sind um die einfachen Gebäude angelegt. Die meisten Menschen hier haben sich dem schamanischen und buddhistischen Glauben angeschlossen. Man glaubt traditionell nach wie vor an Geister und lässt sie am täglichen Leben teilhaben. Immer wieder aber begegnen uns kleine orthodoxe Kirchen oder auch mal ein christliches Kreuz am Wegesrand.
Heute findet bereits unser zweiter Platzwechsel statt. Wir sitzen nun ganz hinten im Bus und spüren so jede Bodenunebenheit doppelt. Ein Burjate hält sein Auto an unserem nächsten Kaffeerastplatz an und fragt uns auf Englisch, wo wir herkommen. Alemania. Prompt reagiert er erfreut. Oh, Football, Alemania! Und dann ein Leuchten auf seinem Gesicht: Football, Francia!!! – und fährt begeistert strahlend mit erhobenem Daumen davon. Tja, das waren noch Zeiten, als im letzten Jahr jeder, der uns auf der Strecke China – Kirgistan – Usbekistan bis Hamburg ansprach, Neuer und Reus in einem Atemzug mit Alemania und Football-Champion nannte.
Nun nutzt Prof. Dr. Maria Huber die Gelegenheit, aus ihrer Zeit in der Sowjetunion zu sprechen. Viele interessante Details über die Gründung der Russischen Akademie der Wissenschaften, später dann über ihre Arbeit als Wissenschaftlerin im Land würzen die Fahrt und geben Einblick in Zeiten, in denen man mit einem Fuß immer irgendwie im Gefängnis stand. Ich bin extrem dankbar, dass wir Maria und Christian an Bord haben, da sie unsere Quellen für echte Informationen aus Vergangenheit und Gegenwart in diesem Lande sind.
Endlich endlich aber kann ich meine Füße in das ersehnte Nass des Baikalsees tauchen - wir sind da! Während einer ersten Rast will ich wissen, was es mit den angekündigten 12° C Wassertemperatur auf sich hat. Aber offensichtlich stimmt das alles nicht. Drinnen im Wasser ist es so warm oder kalt wie draußen. Der Himmel zieht sich zusammen und als wir an der kleinen Hotelanlage ankommen, wundert mich nichts mehr: es ist ein Ski-Hotel mit den vorbeigleitendenden Gondeln eines Sessellifts. Der Regen lässt nicht lange auf sich warten, also blicke ich jetzt durch ein Fliegengitter auf den Skilift, im Hintergrund Birken und lausche, während ich schreibe, dem Regen, der mehr und mehr zunimmt.
Gleich geht es los zum Abendessen; vielleicht verkosten wir heute den berühmten Baikal-Fisch, den Omul. Ich werde berichten...
Nein es gibt ihn nicht, den Omul, dafür jedoch wieder wunderbare Gespräche am Tisch. Unter anderem diskutieren wir, wie es auf einer solchen Reise möglich wäre, mehr mit Menschen aus den Ländern, die wir besuchen, in Kontakt zu kommen. Schlußendlich ziehen wir das Fazit, dass wir natürlich kein Gesamtbild erreichen können, wenn wir nicht im Lande selber leben, bzw., wenn nicht jemand von sich aus auf uns zukommt und sich öffnet. Aber wie sollte das bei solch kurzen Aufenthalten geschehen können? Schade. Mit diesem Fazit erheben sich die meisten und gehen zu Bett. Ein kleiner Kreis bleibt zurück. Plötzlich setzt sich eine fremde Dame an meine Seite. In gebrochenem Deutsch stellt sie sich als "Ärztin der Geburtshilfe" vor. Ihre goldenen Zähne blitzen bei jeder Silbe auf. Sie legt mir einen Zettel vor, auf dem in Kyrillisch Informationen und Telefonnummern aufgelistet sind. Das kann ich gottseidank übersetzen. Mühsam erklärt sie mir dann, was ihr Anliegen ist und äußert den Wunsch, ein russisches Paar in Deutschland zu informieren, dass ein alter Freund vor 3 Jahren gestorben sei. Sie könne das aus Russland nicht bewerkstelligen. - Es wird ein sehr persönliches und herzliches Gespräch. Es geht also doch, näher an die Menschen heranzukommen, auch auf kurzen Reisen. Ich bin heute sehr dankbar für diese kleine Begegnung!
Tag 23
27. Juli 2018
Freundlich weckt uns die Sonne. Nach einer wieder überraschend kalten Nacht eine Wohltat, die wir nutzen, um uns aufzuwärmen. Uns steht ein freier Vormittag zur Verfügung und so setzen wir uns flugs in den Sessellift, der direkt vor unserer Frühstücksterrasse startet. Wir schweben fast 40 Minuten in absoluter Stille über Beeren sammelnde Barjuten und helle Vogelbeer- und Birkenwipfel hinweg. Dann von oben der weite Blick hinüber zum Baikalsee, dem Meer, wie er hier genannt wird.
Nach einem letzten Mittagessen soll es weitergehen. Vor uns liegen nur ca. 200km entlang des Baikalsees, aber aufgrund der Straßenverhältnisse (Serpentinen, Baustellen, LkW etc.) dauert es 5 Stunden, bis wir am Ziel ankommen.
Abwechselnd dösen wir vor uns hin, lauschen den Vorträgen über den Baikalsee, Schamanismus, Humboldt und der Geschichte der Gründung des ZEIT-Büros in Moskau durch Christian Schmidt-Häuer.
Es fallen Namen wie Heinrich Böll, Lew Kopelew, Václav Havel und ist gespickt mit kleinen Anekdoten und Geschichten über das KGB und das Leben überhaupt.
Wir holpern so Stunde über Stunde dahin, bis wir endlich seitlich Wasser durch die Wälder blitzen sehen - unser Ziel ist erreicht. In dem Dörfchen Listwijanka, am Zipfel einer Bucht liegt das Touristenhotel mit seinen Zimmerchen im Stil von russischem Barock, wie ich das heimlich für mich benenne. Der benachbarte Hund findet in der Nacht immer einen neuen Anlass, sein Haus lauthals bellend zu verteidigen und so ist an Schlaf heute leider nicht wirklich zu denken.
Tag 24
28. Juli 2018
Abenteuerlustig starten wir in unseren heutigen freien Tag in dem kleinen Touristenort Listwijanka am Ufer des Baikalsees.
Noch liegt die kleine Uferpromenade verschlafen vor uns und unserem farbenfrohen, aber einfachen Hotel; einzelne Händler bauen winzige Klapptische auf, um ihre Kofferraumware anzubieten. Sie werden mit gehäkelten Tierchen, selbstbemalten Barbie-Kopien, frisch gesammelten Beeren, die noch vor Ort einzeln hübsch in durchsichtige Plastikbecherchen verlesen werden oder kleinen Schildkröten, die fürs heimische Aquarium erwerbbar sind, bestückt. Auf dem örtlichen Markt drapieren rabiate Verkäuferinnen die berühmten Spezialitäten der Gegend, aufgespießte getrocknete und geräucherte Baikalfische auf ihren Budentischen. Den Omul, nach dem ich seit Tagen Ausschau halte, werde ich vergeblich suchen. Wie ich höre, darf er seit ca. 5 Jahren aufgrund von Überfischung nicht mehr angeboten werden. Wer jedoch nach weiteren Spezialitäten Ausschau hält, wird trotzdem fündig: da einige Mitreisende aus beiden Bussen mit kleinen Erkältungen zu kämpfen haben (die starken Temperaturschwankungen zwischen den Tagen und Nächten waren etwas unerwartet), horche ich auf, als eine Burjatin ihre Ware anbietet: gegen Erkältung nimmt man in Honig eingelegte kleine Baby-Kiefernzapfen der sibirischen Kiefer, die höchstens 1cm lang sind, vergleichbar mit unserem Maiwuchs, bei dem frische Tannenspitzen ausgezogen werden. Jetzt bin ich auf die Wirkung gespannt.
Eine kleine Gruppe hat sich zusammengeschlossen, um gemeinsam auf einem GBB (Glasbodenboot) den Baikalsee zu erforschen. Nach unten erkennen wir so gut wie nichts, was bedeutet, dass es nichts gibt: außer steinigem Untergrund hin und wieder kleine Algennester, ansonsten aber tatsächlich klares Wasser und keinerlei Trübstoffe, Schmutz oder gar Fische.
Unvermittelt werden wir an Bord gerufen. Gestikulierend versucht uns unsere Begleiterin klar zu machen, dass wir auf den Schamanenstein inmitten des Sees zusteuern. Aufgeregt halten wir unsere Opfermünzen bereit, denn unvorbereitet sind wir nicht. Weit ausholend werfen wir die Silberlinge aufs Wasser, pling, pling, pling, dann ein Aufschrei, zwei Aufschreie, drei! Yoko hat in ihrer Begeisterung gleich ihr Handy mitgeopfert, im gleichen Atemzug aber wohl entschieden, dass das wohl doch nicht so schlau sei. Alle Fotos der letzten Wochen verloren, alle Kontaktdaten weg! Wir versuchen sie zu beruhigen, denn wer weiß, was unsere Schamanengeister wohl noch Gutes mit ihr vorhaben werden.
Als Trost lässt unsere Russin nun einen Zinkeimer ins Wasser gleiten und holt klares Baikalwasser an Bord. Wir dürfen alle kosten und gehen erfrischt an Land.
Nach dem Mittagessen im Hotel nutzen viele die kostbare freie Zeit zu einem kurzen erholsamen Nickerchen. Die Sonne brennt von oben herab und nicht nur wir versammeln uns danach erneut am Strand. In kürzester Zeit ist aus diesem beschaulichen Ort ein Rummelplatz geworden. Autolawinen wälzen sich durch die einzig zu befahrende schmale Ortsdurchfahrt, Menschen drängen sich auf den restlich verbliebenen Flächen. Wir sind erschüttert. Lautsprecheranlagen versuchen sich gegenseitig zu übertönen, die einen mit Durchsagen zu fantastischen Ausflugsangeboten, die anderen mit Hardrockklängen zwecks Ankündigung anderer unschlagbarer Überraschungen. Maiskölbchenverkäufer sitzen mit apathischem Blick vor ihren dampfenden Töpfen, Familien packen auf dem steinigen Ufer ihre Picknicktüten aus, schöne Mädchen sitzen auf den Stegen und fotografieren sich gegenseitig mit professionellen Posen. Nein, das ist uns zu viel. Zu Viert wollen wir dem entfliehen und beratschlagen, was zu tun ist. Genau in diesem Augenblick tritt ein junger Mann auf uns zu und bietet uns an, ein Speedboot zu mieten, ein NGBB (Nicht-Glasbodenboot).
Warum nicht ein zweites Mal in See stechen? Wir sind hier am Baikalsee und haben nun die Chance, noch weiter hinauszufahren, in ganz kleiner Freundesrunde, während alle anderen Ausflugsboote voll mit quirligen Menschenmassen herumtuckern. Wir wünschen uns slow speed vom Fahrer und lassen bald die touristische Kulisse hinter uns. Während wir in das glitzernde Nass hinausfahren, verstummen die Gespräche nach und nach. Das ist es doch, was wir wollten! Den Baikalsee erleben. Das große „Meer“, wie die Einheimischen sagen, das wunderbare wandelbare Gewässer mit den vielen Gesichtern, je nach Jahreszeit. Sicherlich lässt sich das Gebiet auch anders erkunden, so wie es die Mitreisenden an diesem freien Tag gemacht haben, mit denen wir am Abend sprechen: sei es wie Wolfgang, der Flora und Fauna gesucht und gefunden hat, sei es wie Heiner und Ursula, die auf dem Hosenboden den Hang hinabrutschen, um zum Ziel zu kommen oder wie andere, denen zufällig der Zarengold beim Wandern entlang alter Gleise begegnet ist. Für uns ist es so, und genau so richtig, wie wir es gemacht haben.
Sehr entspannt lassen wir den Tag oben in der Bar unseres Hotels ausklingen. Der zart von Wolken umhüllte abnehmende Mond spiegelt sich im Wasser, Ruhe kehrt ein im Dorf, die blinkenden Lichter ringsum erlöschen nach und nach, während sich Prof. Mária Huber, Christian Schmidt-Häuer und wir anderen Üblichen uns mit Zigarillos, Architektenkammern, Nachfolgeregelungen, Lesungen am Bodensee, geistigen Getränken, Sitzordnungen im Bus, Sinn oder Unsinn von Coaching, Auftritten am Ballhof in Hannover, japanischen Onsen usw. beschäftigen. Ihr lieben LeserInnen seht, wie viel man in kurzer Zeit abarbeiten kann… Aber irgendwann ist auch damit Schluss und glücklich über einen rundum gelungenen Tag fallen wir in unsere Betten.
Tag 25
29. Juli 2018
Nach Irkutsk, der unwirklich weit entfernten Stadt aus „Zug um Zug“, dem Gesellschaftsspiel, in dem man europäische Städte miteinander verbinden muss, sind es heute nur 70km. Der Flug nach Moskau dauert von hier aus über 5 Stunden. Diese sibirische Stadt ist uns so fremd, so weit entfernt von unserer Vorstellungskraft - aber als wir einfahren doch sehr vertraut. Modern, aufgeräumt sind die Straßenzüge, freundlich die Menschen im Hotel, die uns mit Brot und Salz in gutem Englisch begrüßen.
Ich freue mich, endlich einmal wieder in einem schönen Hotel zu sein und entscheide mich, die Stadtrundfahrt nicht mitzumachen. Mein leichtes Fieber und die krächzende Stimme ermahnen mich, eine kleine Auszeit zu nehmen. Mach ich.
Als am Abend alle von der Fahrt zurückgekehrt sind, gibt es einen kleinen Abschiedsumtrunk für Manfred, der morgen in der Früh aus beruflichen Gründen nach Deutschland zurückfliegen wird. Er muss aber allen dringend versprechen, in Moskau wieder zu uns zu stoßen. Dringend.
Tag 26
30. Juli 2018
Pünktlich um 7 Uhr holt das Taxi Manfred vom Hotel ab. Viele viele Stunden Flug liegen vor ihm, bevor er in Frankfurt landen wird.
Die Weite Sibiriens wird heute nicht nur bewusst, wenn man die Flugzeit von 5 Stunden bis Moskau realisiert, sondern auch durch die vor uns liegende Strecke von 520km, die einen kleinen Bruchteil dessen ausmacht, was bis Moskau noch zu bewältigen ist.
Ja, wir fahren, fahren, fahren, mal holprig, mal flüssig, aber noch vermisse ich das, was uns angekündigt ist: die endlos vorüberziehende Birkenlandschaft. Stattdessen sanfte Hügel, mal kleinere, mal größere Kiefern-, Lärchen- und Birkenbestände, aber immer auch großflächig Getreideanbau, Rapsfelder oder regelmäßige Dorfstrukturen. Die Dörfer liegen abseits der Straßen, die sehr einfachen Holzhäuser haben üblicherweise einen dicht bepflanzen Garten innerhalb ihrer Holzumzäunungen, die Straßen sind meist ungepflastert/ungeteert. Erste Heuanhäufelungen zeigen, dass manche der riesigen Wiesen intensiv genutzt werden, die meisten jedoch nicht. Wunderschöne leuchtende Blütenköpfchen begleiten uns am Wegesrand die ganze Strecke über.
Heute verkürzen erst Christian und dann Mária den Tag durchgehend mit ihren Vorträgen über die 80er Jahre, in denen sie die politischen und ökonomischen Bedingungen mitdurchlebten und analysierten. Christian schrieb damals die erste Biografie über Gorbatschow und war daher sehr nahe an der Person und dem Umfeld. Mária vertieft bestimmte ökonomische Themen auf ihre unterhaltsame Art. Auch Larissa und Wolfgang dürfen an ihre Fachgebiete ausgiebig anknüpfen.
Gegen 19 Uhr erreichen wir unser Übernachtungsstätte. Es wird kurz vor dem Ziel mehrfach betont, wie einfach
gestaltet unsere Unterkunft sein würde, aber heute bin ich doch am Rande meiner Belastungsgrenze angelangt. Sicherlich habe ich schon vieles ertragen und mich immer wieder auf alles klaglos
einstellen können, aber beim Anblick dieser Räumlichkeiten ist die Grenze erreicht. Ich gehe hier auf keine Details ein, habe das bei meinen Kollegen zu Genüge getan und hoffe jetzt nur noch auf
ein Glas Wein, um irgendwie und irgendwann einschlafen zu können. Beim Verlassen eines dann doch netten Gasthauses werden Bettina und ich von einer kleinen Schar jugendlicher Kinder fröhlich
radebrechend umringt. Sie haben uns schon erwartet. Ein Mädchen steckt mir einen kleinen Zettel mit den Namen der kleinen Truppe zu und alle sind ganz ganz glücklich darüber, mit uns sprechen zu
können. Dies ist eine sehr herzliche Begegnung und versöhnt mich dann doch mit meiner Umgebung; bin ja wirklich recht schnell zu besänftigen.
Tag 27
31. Juli 2018
Zerschlagen sitzen alle weit vor der Zeit auf gepackten Koffern an der Rezeption und warten auf die Abfahrt. Ingrid hat sogar dort übernachtet, da sie ihr Zimmer nicht ertragen konnte. Nach dem Frühstück im Restaurant vom Vorabend (bei dem all das aufgetischt wird, was es bereits am Abend gab) fahren wir in den kalten, aber strahlend blauen Vormittag hinein.
Die transkontinentale Strecke ist gut, meist zweispurig, hin und wieder unterbrochen von kleinen Baustellen, an denen Frostschäden behoben werden oder Bauarbeiter gerade Päuschen einlegen. Der Verkehr ist absolut überschaubar, zumeist begegnen uns Lkws. Und endlich durchfahren wir sie, die lichtdurchfluteten Birkenwälder, die mich sehr stark an die Gegend um Hitzacker im Wendland erinnern.
Wir fahren durch alte Straßendörfer und wie der Blitz durchfährt mich der Gedanke, dass es genau so (oder so ähnlich) vor ca. 200-300 Jahren auch bei uns in den ländlichen Gebieten ausgesehen haben muss. Wären die alten rostzerfressenen Motorräder in den Höfen nicht zu sehen und nicht die eine oder andere Satelittenschüssel vor den winzigen Fensterchen angebracht, könnte es genau so ausgeschaut haben: die von den Jahren und Jahreszeiten gebeugten Holzzäune, die sich schützend eng um die kleinen Gärtchen legen, die großen Kohlköpfe, die dicht neben den Johannisbeeren wachsen, das etwas größere Kartoffelfeld, welches den Hauptanteil in jedem Garten einnimmt und das Feuerholz, welches entweder irgendwo mehr oder weniger ordentlich aufgeschichtet auf den kommenden Winter wartet oder auf einem Haufen abgeworfen wurde. In den kleinen Innenhöfen drängen sich Hüttchen neben Schuppen. Was wofür angedacht ist, kann ich von außen nicht erkennen. Was ich weiß ist, dass es bis heute in den meisten Hütten keine Toilette gibt; ich vermute da draußen daher die klassischen Plumpsklosetts. Die Fenster sind im Allgemeinen blau umrandet, manchmal ornamentreich verziert, manchmal nicht. Eine Einfriedung berührt die nächste, als wollten alle Dorfbewohner dicht aneinanderrücken.
Da die transsibirische Eisenbahn meist parallel zu unserer Straße verläuft, begegnen uns ständig ellenlange Güterzüge, die Ware bis nach China bzw. in den Osten Sibiriens hinaustransportieren – oder zurück.
Christian und Larissa bemühen sich, uns mit spannenden Geschichten von Kosaken, Jelzin und Putin wach zu halten, was ihnen jedoch in meinem Fall nicht gelingt. Entweder döse ich vor mich hin oder blicke träumend in die satte, abwechslungsreiche Landschaft hinaus. Es ist schön, so dahin zu reisen, aber die Stunden dehnen sich dann doch. Sehr froh erreichen wir letztlich Krasnojarsk, wo wir endlich wieder eine ordentliche Dusche nehmen können. Auch heute Abend bin ich noch erschöpft von meinem kleinen Infekt und ziehe mich früh zurück (beachte: ab heute haben wir erstmals eine Stunde durch den Zeitzonenwechsel dazugewonnen - jetzt fehlen noch 5 bis Hamburg!).
Lieber Manfred, obiges Foto wollten dir liebe Hamburger Mitreisende noch als Mahnung zukommen lassen (haben sie doch nett arrangiert, oder?!) - damit du bald wieder in den Schoß der Gruppe zurückkehrst ;-)
Tag 28
01. August 2018
Ausschlafen bis 9 Uhr, strahlend blauer Himmel, perfekte Temperaturen zwischen 23° und 24°C, Galina, eine lokale Stadtführerin, die mehr als stolz auf ihre Heimat ist, richtig gut gelaunte Mitreisende – nichts könnte für einen Tag mitten in Sibirien vielversprechender sein.
Tatsächlich rühmt sich die Millionenstadt Krasnojarsk damit, der „Mittelpunkt“ Russlands zu sein: der sie durchströmende Fluss Jenessej teilt das Land je ca. 4000km nach Westen und 4000km nach Osten. Gleichzeitig trennt er West- und Ostsibirien voneinander.
Wie bei jeder wachsenden Großstadt ist der äußere Eindruck - so wie bei allen anderen Zentren auf unserer Strecke - auf den ersten Blick eher unspektakulär. Moderne Zentren, Rohbauten, Altstadtbereiche mit historischen Einsprengseln (hier vor allem Holzblockhäuser mit ausgiebigen Holzschnitzereien im sogenannten Sibirischen Barock).
Der Jenessej spielt in und für die Stadt eine wichtige Rolle. Galina vermag es hervorragend, Begeisterung für ein Denkmal zu erwecken, welches am schönsten Platz der Stadt (Theaterplatz) den Fluss ehrt. Verkörpert durch einen „schönen, kraftvollen, starken Mann, wie ihn sich die Frauen wünschen“ (nicht meine Worte), umspielen und speisen ihn 22 000 Zuflüsse, symbolisiert durch 7 veredelte, schöne Frauenstatuen.
Da sich der Fluss direkt vor unseren Augen entlangschlängelt, können wir gleich eines der Wahrzeichen der Stadt begutachten, die Kommunale Brücke, die die beiden Ufer miteinander verbindet. Ein weiterer Stolz Krasnojarsks ist eine kleine Kapelle (Paraskewa-Pjatniza), die uns vom ehemaligen Wachhügel einen wunderbaren Blick über die Stadt gestattet. Um die Kapelle ranken sich einige Geschichten, denen wir sicherlich interessiert zuhören und sie notieren, aber bevorzugt genießen wir die klare, lauwarme und trockene Luft, die uns hier oben um die Nase weht und den weiten Blick über eine sichtbar prosperierende Stadt. Überall sind Arbeiter am Werk und bauen, reparieren und kontrollieren. Die Emsigkeit ist auffallend, hat aber 2 einleuchtende Gründe. Da die Böden im hiesigen Kontinentalklima nur 3 von 12 Monaten wirklich frostfrei sind, muss alles, was an Arbeiten anfällt in entsprechend kurzer Zeit bewerkstelligt sein. In den kurzen Sommern wird es tagsüber bis zu 35°C warm, im Rest des Jahres bis zu -40°C (tagsüber). Für die sympthische Galina ist der Sommer bereits vorüber und es geht rasend schnell auf den kurzen Herbst zu.
Der 2. Grund ist trivial: im nächsten Jahr findet die 29. Winteruniversiade in Krasnojarsk statt. Um die 60 Länder werden vertreten sein und daher soll die Stadt bis dahin in neuem Glanze erstrahlen. Auf uns macht sie aber jetzt schon einen äußerst freundlichen, modernen und aufgeräumten Eindruck. Wir diskutieren erstaunt unsere Vorurteile und anders gearteten Erwartungen. Wir sind uns einig: diese hohen Standards hätten wir alle nicht erwartet! Kleines Beispiel: junge Servicekräfte überraschen uns mit ihren Englisch- und/oder Deutschkenntnissen (was uns in China in 99% aller Fälle nicht begegnet ist); bei mehr als 120 000 Studenten, also mehr als 10% der Bevölkerung vielleicht auch kein Wunder...
Aber es geht noch weiter mit den Überraschungen. Auf dem Weg zum nächsten Ziel, einem der wichtigsten Stauseen und Schiffshebewerken Russlands, besuchen wir ein altes Dorf mit originalen Holzhäusern direkt am Jenessej. Das Bilderbuchwetter lässt hier die Fotoapparate heiß laufen. Neben der Postkartenidylle existiert aber auch die manchmal doch sehr nüchterne Realität, wenn man sich z.B. den antiken Wagen mit dem Roten Kreuz genauer unter die Linse nimmt. Er fährt gerade Richtung Dorfapotheke, die gleichzeitig die Aufgabe eines stationären Krankenhauses übernommen hat.
Wir rollen jetzt aber genüßlich weiter durch lichtdurchflutete Birkenwaldhügel im Naturschutzgebiet Stolby. Bussarde kreisen über uns und beim Flanieren versuche ich, ein paar der Heilpflanzen zu bestimmen, die hier, genau wie Pilze und Beeren, gesammelt und häufig am Straßenrand zum Kauf angeboten werden.
Nach einem Kurzbesuch am 124m hohen Wasserkraftwerk, dem 3. Wahrzeichen Krasnojarsks, gleiten wir mit dem Sessellift in die wunderschöne Hügellandschaft hinauf, um die Stadt, die uns tatsächlich alle berührt hat, noch ein letztes Mal von oben zu bewundern.
Auch der Jenessej nimmt uns noch ein letztes Mal gefangen. Unseren Abend verbringen wir an seinem Ufer in einer netten Gaststätte, wo wir gleich 2 Geburtstagskinder aus der Gruppe Shanghai feiern dürfen, Thomas und Ingeborg. Thomas lässt es sich nicht nehmen, alle, also auch uns, die Gruppe Hamburg zu einem Bier einzuladen. Gegenüber unseres Hotels gibt es doch tatsächlich einen Bier-Store, in dem Biersorten aus aller Welt angeboten werden, auch frisch gezapft. Unglaublich die Vielfalt. Trotz unserer hörbaren Begeisterung wirft uns der gestrenge Verkäufer exakt auf die Minute um 23 Uhr vor die Tür. Feierabend. Kasse zu.
Aber auch das meistern wir. Wie immer. Auf den Stufen vor dem Store sitzend prosten wir uns zu, fröhlich, entspannt, launig, auf einen richtig gelungenen Tag, mitten in Sibirien!
Tag 29
2. August 2018
Weiter geht´s. Wieder haben wir mehr als 500km vor uns. Mittlerweile macht das niemandem mehr etwas aus. Wir haben unseren täglichen Rhythmus in Fleisch und Blut übernommen: Vorträge, regelmäßige Pinkel-, Kaffee-, Fahrer-, Foto- oder Essenspausen, dösen, schlafen, in die Ferne schauen, sinnieren, Landschaften bestaunen, meditieren, lesen, alles auf sich wirken lassen, sich hingeben.
Sibirien ist zwar menschenarm aber nicht menschenleer. Die Strecke ist immer abwechslungsreich, Ansiedlungen, kleine Städtchen, kleine Dörfer, wir haben immer etwas zum Schauen. In einer mittleren Kreisstadt essen wir einmal wieder sehr traditionell zu Mittag (Leber auf Buchweizen). Irgendwie ist das für viele sehr gewöhnungsbedürftig; also los, ab ins Getrubel.... Wir besuchen schnell, schnell einen winzigen Bauernmarkt um die Ecke, wo wir mit vielen Blicken auf Schritt und Tritt begleitet werden. Nach ein paar Minuten entspannen sich die Mienen der Händlerinnen und Händler und manch freundliches Lächeln taucht in den vielen gezeichneten und zerfurchten Gesichtern auf. Die Ware ist überschaubar, so, als ob nur das angeboten wird, was man selber nicht aufbrauchen konnte.
Bei einer weiteren Rast im Nichts entdecken wir eine frisch erstellte kleine Kirche nahe an einem Friedhof, der zwischen Birken versteckt liegt. Hier ist ein besonderer Ort voller berührender Ausstrahlung. Auffällig ist, dass die Männer, die hier ihre letzte Stätte gefunden haben, kaum älter als 40 bis 50 geworden sind. Die Gräber sind von unendlich vielen bunten Blumen übersät - alle aus Plastik und Kunststoffen, damit sie überdauern können.
Und wieder geht es weiter. Am Abend in Kemerowo, einer modern erscheinenden, recht gepflegten Stadt mit immerhin auch gut 500 000 Einwohnern fährt der Bus immer weiter tief in einen freundlichen Wald hinein, immer tiefer und tiefer - bis wir an einem sehr unerwarteten Komplex ankommen, am Hotel Graal. Dieses Haus ist eine angenehme Überraschung. Hier lässt es sich so richtig entspannen. Ich ziehe das Losglück: die Suite. Na gut, was soll ich aber nun alleine mit der Ledercouch-Garnitur anfangen, dem kostbaren Porzellan-Service in der Vitrine und der reichhaltigen Gläserauswahl daneben? Auf die große Sause habe ich keine Lust, stattdessen genieße ich in diesem speziellen Ambiente ein ungewöhnliches Abendessen und ziehe danach die kuschelige Bettdecke über mich; heute Nacht soll die Temperatur auf 1°C sinken.
Tag 30
3. August 2018
Wir fahrn, fahrn, fahrn, auf der Autobahn....
Spürt ihr das Rütteln und Schütteln? Vorbei an sich immer weiter ausdehnenden offenen Landschaften nähern wir uns trotz der recht kurzen Strecke von 270km nur zögerlich der größten Stadt Sibiriens: Novosibirsk. Rasten an der Strecke mit Lunchpaketen; wir sind froh darüber, denn die üppigen Mahlzeiten mit mindestens 3 Gängen sind sehr anstrengend und halten immer wieder sehr auf. Vor allem, wenn beide Busse parallel unterwegs sind und plötzlich 50 Leute ein Restaurant erstürmen. Aber meistens schaffen wir es entspannt in halbstündigem Abstand zum 2. Bus (obwohl wir uns immer sehr freuen, die "anderen"mit großem Hallo wiederzutreffen - das Frühstück ist ja kaum vergangen, bei dem wir zuletzt zusammengesessen haben... ).
Dann fahren wir ein in die Millionenstadt. Modern kommt sie daher, voller Menschen, viel Verkehr, verlockende Fassaden, egal ob modern oder traditionell. Ich bin sehr gespannt auf den morgigen Tag.
Leider verabschieden sich heute Maria und Christian. Zwei Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind. Aber wir bleiben in Kontakt. Au revoir! Bis bald!
Tag 31
4. August 2018
Was mich heute überhaupt nicht interessiert: der Zoo und der Bahnhof und das Lokomotiv-Museum von Novosibirsk. Gut, das Sillicon Valley Russlands wäre schon eine Reise wert, aber dafür würde mir zuviel andere kostbare Zeit verloren gehen. Also kein Akademgorod, sondern Novosibirsk pur!
Alleine, ohne meine Zeit-Reisenden mache ich mich auf den Weg, in meinem Tempo, mit meinen Augen, gehe dorthin, wohin mich meine Füße tragen. Tatsächlich lasse ich mich treiben, erreiche aber dann doch wie von einem Magneten angezogen Lenin. Da steht er in der Sonne und lässt sich immer noch bewundern. Gerade jetzt fährt unser ZEIT-Bus zufällig vorbei. Ich winke und rudere aufmerksamkeitsheischend mit meinen Armen in der Gegend herum, um alle zu grüßen, aber meine Kollegen haben nur Augen für ihn, den großen Lenin hinter mir. In solchen Augenblicken mache ich mir in mich hineinlächelnd immer wieder die Absurdität des Moments bewusst: da stehe ich nun an einem frühen Samstagmorgen inmitten einer Millionenstadt in der absoluten Fremde und bin unsichtbar für meine Mitreisenden, die gebannt den wehenden Mantel eines Volkshelden fotografieren.
Genüßlich unterquere ich die breite Hauptstraße und lande an einem Springbrunnen, der von fröhlich tollenden Kindern belagert ist. Ein Brautpaar mit Eltern und Freunden spaziert vorbei. Irgendwie kommen wir ins Gespräch; flugs drückt mir der Bräutigam ein gefülltes Sektglas in die Hand und schon bin ich mittendrin im Feiertrubel. Herzlich geht es zu, dann löst sich alles wie inszentiert in Wohlgefallen auf und ich sitze fast eine weitere Stunde dort und beobachte die Menschen. Von Hektik keine Spur, weder bei mir noch bei ihnen.
Jetzt möchte ich das sibirische Staatsmuseum besuchen, welches auf verschiedenen Etagen die Geschichte der sibirischen Bevölkerung bis in die 60er Jahre hinein präsentiert, aber auch in einer aktuellen Ausstellung neuere Ikonen zeigt, die mit sehr unterschiedlichen Materialien auf höchstem Niveau gearbeitet sind.
Stunde über Stunde vertiefe ich mich in Birkenkörbe, Schamanentrommeln, Schneemasken, Kinderspielzeuge, Perlen (ab dem 5. Jahrhundert), alte Radios bis hin zu den verschimmelten, aber irgendwie konservierten Brotscheiben und Brötchen aus den 60er Jahren. Sehr fasziniert von allem fällt es mir schwer zu gehen, aber die Sonne lockt mich schließlich nach draußen.
Irgendwann begegne ich Ursel, die mich fragt, ob ich Lust auf eine Massage hätte. Wie sich herausstellt, hat Heiner gekniffen und sich zu einem Nickerchen zurückgezogen, also ist ein Platz frei.
Begeistert stimme ich zu und mit Yoko im Gepäck öffnen wir die mächtigen Tore des Massagetempels. Erschlagen starren wir auf die prächtigen Wände, die uns so plötzlich umgeben. Wenn ich das früher gewusst hätte, wäre ich schon längst hier gelandet. Oder vielleicht doch nicht? Als mich jetzt meine Masseurin, die, so vermute ich, noch nie gelächelt hat, zwischen ihre Hände nimmt, vergehen mir Hören und Sehen. Gequält stöhne ich hin und wieder auf, weil meine Muskulatur das kaum noch erträgt und ihre stahlharten Finger sich immer tiefer ins Gewebe bohren, aber sie interpretiert das wohl eher als Zustimmung. Manchmal wirft sie wie zur Bekräftigung unvermutet und laut einzelne russische Worte in den Raum. Wahrscheinlich war sie einmal Kyokushinkai-Kämpferin oder so etwas. Jedenfalls setzt sie ihre Ehre dafür ein, bis zur letzten Minute alles zu geben. Sie lässt mir auch fast keine Stelle meines Körpers unversehrt. Würde sie mir jetzt die Haut abziehen, würde ich es nicht einmal merken.
Erschlagen, aber seltsamerweise doch irgendwie schwebend und wohlig durchblutet lassen wir uns mit dem Taxi zu einem georgischen Restaurant fahren, welches uns Heiner als Geheimtip ans Herz gelegt hat. In kleiner, aber feiner Runde beenden wir diesen denkwürdigen schönen Tag. Unser russischer Taxi-Fahrer erkennt uns sofort als Deutsche: "Ahhh, Cheil Chitler!" Findet er wohl sehrrrrr lustig...
Ach ja, in der Hotellobby des Hilton, mitten in Sibirien, liegt neben vielen russischen eine chinesische Zeitung auf dem Tisch aus. Darauf prangt das lächelnde Abbild von Merkel und Seehofer. Absurdität des Moments.
Tag 32
5. August 2018
656 km liegen vor uns, die längste Einzelstrecke auf unserer Reise. Mir schmerzen noch die Glieder von meiner gestrigen Massage. Große Augen und Gelächter sind das Ergebnis, als ich meine blauen Flecken an Armen und Beinen vorzeige.
Wir fahren nun durch das mittelsibirische Tiefland. Gleiboden verhindert, dass Wasser nach unten abfließt, wodurch Feuchtbiotope entstehen und dadurch Meere an Rohrkolben den Weg säumen. Die Gegend ist reich an Insekten, Fischen, Lurchen und Wasservögeln wie Reiher, Blesshühner und Haubentaucher, die immer wieder wie aus dem Nichts auffliegen.
Die wilde Gerste, die Grundform unserer kultivierten Gerste ist hier ebenfalls heimisch und weit verbreitet. Ihre langen Grannen hinterlassen einen sehr duftigen leichten Eindruck in den bunten Wiesen. Queller als Salzanzeiger (Halophyten) überziehen weite Flächen in feinem Rot.
Michael Thumann stellt sich als neuer ZEIT-Experte vor. Voller Spannung folgen wir seinen kurzweiligen Ausführungen über Putins Politik und die verzwickten außen- und innenpolitischen Entwicklungen seit dessen Machtantritt. Alleine diese 2 Stunden, die von Fragen gespickt sind, machen neugierig auf den morgigen Vortrag.
Blau-weißer Himmel, angenehme Temperaturen und dennoch kuscheln wir uns in alle Jacken und Decken, die vorhanden sind. Niemand kann sich vorstellen, wie heiß es momentan in der Heimat ist. Hier wird eher gehustet, geschnupft, geniest und gute Tipps weiterverteilt.
Wie so oft schon fahren wir mit gutem Gefühl in unsere Zielstadt ein. Ruven hat mal wieder ganze Arbeit geleistet. Der Rucksack ist schon gepackt und - im letzten Moment stoppt der Bus mitten auf der Straße. Die vor uns liegende Brücke lässt nur eine Gesamthöhe von 3,1 m zu. Verdammt. Da passen wir nicht hindurch. Das bedeutet, dass wir umkehren und uns eine neue Route suchen müssen. Manchmal kann das richtig lange dauern, aber heute schaffen wir es in einer vernünftigen Zeit. 656 km sind gemeistert! Vor unserem Hotel fließt träge der Irtysch vorbei, von meiner Panorama-Fensterfront wunderbar zu verfolgen.
Der Abend endet beim Abendessen. Zum ersten Mal esse ich Stör. Wer gluckt mal wieder zusammen? Hanne, Yoko und ich. Dann sucht Michael Thumann noch ein Plätzle und findet es bei uns. Bei georgischem Wein dreht sich nun nicht alles nur um Putin, Gorbatschow, Schmidt, die Gräfin oder Maas, nein, da gibt es noch vieles mehr, worüber man sich köstlich amüsieren kann. Am Ende sitzt unser Tisch als letztes da und lacht und lacht und lacht...
Tag 33
6. August 2018
"Die russische Seele ist wie eine Birke: schwarz und weiß."
Das sind die Worte unseres leidenschaftlichen Local-Guide, der uns mit Verve, aber auch einer gewissen Schwermut durch seine Stadt führt. Neben netten Anekdoten und kleinen Geschichten kommen immer wieder die "traurigen" und tragischen Dinge zu Wort, von denen es in Omsk wohl eine Menge gegeben hat - man denke nur an Dostojewski, der hier 4 Jahre in Verbannung leben musste und danach bekannte, dass er sich erst nach dieser schwersten Zeit seines Lebens zu dem Schriftsteller entwickeln konnte, der er eben wurde.